VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 09.10.2018 - A 1 K 3294/17 - asyl.net: M26798
https://www.asyl.net/rsdb/M26798
Leitsatz:

Familienasyl für Eltern eines in Deutschland geborenen minderjährigen Kinds:

"1. Die elterliche Lebensgemeinschaft mit dem stammberechtigten minderjährigen ledigen Kind muss nicht bereits im Verfolgerstaat bestanden haben. Auch ein in Deutschland geborenes minderjähriges lediges Kind kann seinen Eltern Familienasyl vermitteln, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft der Eltern bereits im Verfolger­staat bestanden hat (Rn.17).

2. Entsprechendes gilt für die Anwendung des § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG (juris: AsylVfG 1992) in Bezug auf die minderjährigen ledigen Geschwister des Stammberechtigten (Anschluss an VG Sigmaringen, Urteil vom 19.05.2017 - A 3 K 3301/16 -, Rn. 21 ff., juris) (Rn.21)."

(Amtliche Leitsätze, anders jedoch VG Würzburg, Urteil vom 29.08.2017 - W 4 K 17.31679 - asyl.net: M26036)

Schlagwörter: Familienasyl, Familienflüchtlingsschutz, Elternasyl, minderjährig, in Deutschland geborenes Kind, Kind,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

16 [...] Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Verfolgerstaat bestand (Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG Rn. 28; a.A. Hailbronner, AuslR, 86. Aktualisierung Juni 2014, § 26 AsylG Rn. 53e; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 26 AsylG Rn. 14, 12). Ausreichend ist es, dass das stammberechtigte minderjährige ledige Kind in eine bereits im Verfolgerstaat bestehende Familie hineingeboren worden ist.

17 Im Hinblick auf das Elternasyl nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG stellt es eine zu enge Auslegung des Gesetzeswortlautes dar, wenn man auch in diesem Fall fordern wollte, dass die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem stammberechtigten minderjährigen ledigen Kind bereits im Verfolgerstaat bestanden haben, es also im Verfolgerstaat geboren sein muss. Bereits nach der seit 2007 geltenden Rechtslage (und wohl schon davor seit 1992) war für den – hier umgekehrt vorliegenden Fall – des Familienasyls minderjähriger Kinder abgeleitet von ihren Eltern als Stammberechtigten nicht erforderlich, dass die zum Familienasyl berechtigten Kinder zusammen mit dem Stammberechtigten eingereist sind, mithin bereits vor der Einreise geboren waren (Bodenbender, in: GK-AsylVfG, 82. Lfg., Juni 2008, § 26 AsylG Rn. 68). Daher kann es auch im umgekehrten Fall von vornherein nicht darauf ankommen, ob die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den um Familienasyl nachsuchenden Eltern und dem stammberechtigten minderjährigen ledigen Kind bereits im Verfolgerstaat bestand.

18 Folgerichtig fordert Art. 2 lit. j) der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), auf den § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG rekurriert, nur, dass die "Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat". Mit Familie kann nach dieser Diktion mithin auch lediglich die "Restfamilie", d.h. (wie hier) insbesondere die Eltern des sodann in der Bundesrepublik Deutschland geborenen minderjährigen Kindes, welches im vorliegenden Fall stammberechtigt ist, gemeint sein. Andernfalls hätte der Gesetzgeber eine andere Formulierung gewählt, die darauf abstellt, dass die konkrete "familiäre Beziehung" oder "die Elternschaft" schon im Verfolgerstaat bestanden hat, wie dies entsprechend beim Ehegattenasyl nach § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG mit den Worten "die Ehe oder Lebensgemeinschaft mit dem Asylberechtigten" eindeutig ausgedrückt ist (so auch Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28). Weder dem Gesetzeswortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG, der Qualifikationsrichtlinie noch der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 AsylG (BT-Drucks. 17/13063, S. 21) kann entnommen werden, dass der Stammberechtigte bereits vor der Einreise (der Familie) geboren sein muss. Gefordert wird vielmehr lediglich die Minderjährigkeit und Ledigkeit des Stammberechtigten zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des um Familienasyl nachsuchenden anderen Familienmitglieds und, dass ein Zusammenhang zwischen der Asylantragstellung der Familienmitglieder und dem Aufenthalt des Stammberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland besteht. So spricht auch Art. 2 lit. j) 3. Spiegelstrich der Qualifikationsrichtlinie lediglich davon, dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, minderjährig sein muss und nicht verheiratet sein darf. Art. 23 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie, der ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG mit dieser Bestimmung umgesetzt werden sollte (vgl. BT-Drucks. 17/13063, S. 21), sieht vor, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, "dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen", Anspruch auf Zuerkennung des internationalen Schutzes haben, um den Familienverband zu wahren. Die Vorschrift enthält keine Begrenzung dahingehend, dass die stammberechtigte Person bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet, insbesondere schon im Verfolgerstaat geboren gewesen sein muss.

19 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG, wonach die Familie i.S.d. Art. 2 lit. j) der Qualifikationsrichtlinie schon in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Bei unbefangener Wortlautinterpretation legt diese Formulierung zwar nahe, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsstaat politisch verfolgt sein musste. Zwingend ist dies mit Blick auf die Möglichkeit der zulässigen Heranziehung von Nachfluchttatbeständen und unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben des Art. 2 lit. j) der Qualifikationsrichtlinie jedoch nicht. Der 2. Halbsatz des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG dient lediglich dazu, den maßgeblichen "Herkunftsstaat" zu beschreiben. Dass eine politische Verfolgung eines erst in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Kindes möglich ist, hat das Bundesamt - wie hier - durch die Statusentscheidung, der Stammberechtigten die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, positiv und bis dato unwiderrufen festgestellt.

20 Schließlich spricht die Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG dafür, das Familienasyl auch Familienangehörigen von (erst) in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Stammberechtigten zuzusprechen. Die Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 2 AsylG a. F. (bzw. jene zur identischen Vorgängerregelung des § 7a Abs. 3 AsylG 1990 (BGBl I-1354, 1381 v. 13.07.1990): BT-Drs. 11/3055, S. 5 (Ziff. 6.) und BT-Drs. 11/6960, S. 29, 30 (zu Art. 3 Nr. 3)), stützt die Regelung u.a. darauf, dass sie sozial gerechtfertigt sei, weil sie die Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten fördere. Die Begründung der dem § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG zugrundeliegenden Qualifikationsrichtlinie (dort Erwägungsgrund 38) rückt zudem das Kindeswohl in den Vordergrund rückt. Dessen Förderung kommt indes nicht nur in Betracht, wenn das Kind um Familienasyl nachsucht, sondern auch, wenn es – wie hier als Stammberechtigter - dieses für seine nahen Angehörigen gerade erst vermitteln soll. Denn in beiden Fällen dient die Zuerkennung des Familienasyls der Familieneinheit insgesamt und damit dem Kindeswohl des minderjährigen Kindes - gleich, ob es Stammberechtigter oder Familienangehöriger ist. [...]