OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 14.11.2018 - 13 LB 160/17 - asyl.net: M26813
https://www.asyl.net/rsdb/M26813
Leitsatz:

Keine Ausweisung bei überwiegendem Bleibeinteresse wegen enger Bindung zu in Deutschland lebenden Kindern:

"1. Die Anforderungen an das tatbestandliche Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsinteresses im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ("nicht nur vereinzelter oder geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften") entsprechen den in der Rechtsprechung zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F. entwickelten Anforderungen.

2. Einem Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG das den Umständen des Einzelfalles angemessene Gewicht zu verleihen.

3. Dem Tatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG kommt keine eigenständige Bedeutung für die Beurteilung des Vorliegens eines schwerwiegenden Bleibeinteresses (mehr) zu, wenn bereits nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG ein schwerwiegendes Bleibeinteresse wegen nach Art. 6 GG schutzwürdiger Beziehungen zu im Bundesgebiet lebenden Kindern gegeben ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, Eltern-Kind-Verhältnis, Straftat, Wiederholungsgefahr, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Ausweisung, Kindeswohl, Umgangsrecht,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9, AufenhtG § 55 Ab.s 2 Nr. 5, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

41 Für den Senat besteht auch keine Veranlassung, den so - in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F. - bestimmten Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG mit Blick auf etwaige Wertungswidersprüche zu den insbesondere in § 54 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 AufenthG benannten Ausweisungsinteressen teleologisch zu reduzieren (vgl. hierzu Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BR-Drs. 642/14 (B), S. 25 f.; Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 18/4199, S. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 10.10.2016 - 2 O 26/16 -, juris Rn. 9 ff.; VG Göttingen, Urt. v. 28.6.2017 - 1 A 241/16 -, juris Rn. 45; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 54 Rn. 76). Die in den Katalogen der Absätze 1 und 2 des § 54 AufenthG konkretisierten Ausweisungsinteressen sind vom Bundesgesetzgeber alle als schwerwiegend bewertet worden. Die zugrundeliegenden Handlungen sind aber ersichtlich nicht gleicher Art und auch nicht in gleicher Weise sanktioniert oder pönalisiert. Angesichts der teilweise erheblichen Unterschiede erscheint es kaum möglich, bereits bei der Bestimmung des tatbestandlichen Anwendungsbereiches der in den Katalogen der Absätze 1 und 2 des § 54 AufenthG konkretisierten Ausweisungsinteressen ein Gleichgewicht herzustellen (vgl. zu dieser Forderung: Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 18/4199, S. 6). Der Senat sieht hierfür auch keine Notwendigkeit. Das Anliegen, in § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG die Wörter "einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen" zu streichen, fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 18/5420, S. 13 und 15). § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist vielmehr ausdrücklich eine Auffangfunktion zur Begründung eines schwerwiegenden Ausweisungsinteresses zugedacht worden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 52). Zudem ergibt erst die nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung unter umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, ob das Interesse an der Ausreise letztendlich überwiegt. Im Rahmen dieser Abwägung ist auch einem Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG das den Umständen des Einzelfalles angemessene Gewicht zu verleihen (so auch Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, AufenthG, § 54 Rn. 111 (Stand: Mai 2018)). [...]

58 Dies zugrunde gelegt sind hier, wie zu III.1. ausgeführt, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG erfüllt. Dem Tatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG kommt aber keine eigenständige Bedeutung für die Beurteilung des Vorliegens eines schwerwiegenden Bleibeinteresses (mehr) zu, wenn, wie hier, bereits nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG ein schwerwiegendes Bleibeinteresse wegen nach Art. 6 GG schutzwürdiger Beziehungen zu im Bundesgebiet lebenden Kindern gegeben ist. § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG stellt vielmehr einen bloßen Auffangtatbestand für Sachverhalte dar, die von den übrigen und auch nicht abschließend formulierten Tatbeständen des § 55 Abs. 2 AufenthG nicht erfasst werden. [...]