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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 19.07.2018 - V ZB 179/15 - asyl.net: M26817
https://www.asyl.net/rsdb/M26817
Leitsatz:

Zu den Anforderungen an eine "begleitende" Straftat nach § 72 Abs. 4 S. 4 und 5 AufenthG a.F.:

"a) Die Erhebung der öffentlichen Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren betreffen eine im Sinne von § 72 Abs. 4 Sätze 4 und 5 AufenthG "begleitende" Straftat nach dem Strafgesetzbuch mit geringem Unrechtsgehalt, wenn zwischen der Straftat mit geringem Unrechtsgehalt nach § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG und einer Straftat nach § 95 dieses Gesetzes oder § 9 FreizügigG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht.

b) Von einer Aufhebung des noch nicht abgelaufenen Teils der angeordneten Sicherungshaft ist gemäß § 62 Abs. 4a AufenthG nach dem Scheitern des Versuchs der Rücküberstellung abzusehen, wenn zu erwarten ist, dass die Haft aufgrund eines entsprechenden bereits gestellten oder vorbereiteten Haftantrags verlängert wird."

(Amtliche Leitsätze; Anm.: Seit August 2019 gilt die Voraussetzung nicht mehr, dass es sich um eine begleitende Straftat handeln muss; vielmehr genügt es für das Entfallen des Einvernehmenserfordernisses, dass die Straftat einen geringen Unrechtsgehalt hat.)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Aufhebung, Ermittlungsverfahren, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Dublinverfahren, inhaltlicher Zusammenhang, Unrechtsgehalt, alte Fassung, Gesetzesänderung, begleitende Straftat,
Normen: AufenthG § 72 Abs. 4 S. 4, AufenthG § 72 Abs. 4 S. 5,
Auszüge:

[...]

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Haft zur Sicherung seiner Rücküberstellung nach Malta durfte gegen den Betroffenen nur angeordnet werden, wenn das gegen ihn bei der Staatsanwaltschaft H. anhängige Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung entweder bereits eingestellt war oder ein allgemeines Einvernehmen der Staatsanwalt oder der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft für derartige Straftaten vorlag.

1. Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - von den Ausnahmen gemäß § 72 Abs. 4 Sätze 3 bis 5 AufenthG abgesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. [...] Wenn mehrere Ermittlungsverfahren anhängig sind, müssen alle beteiligten Staatsanwaltschaften zustimmen (Senat, Beschlüsse vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 25, vom 29. September 2011 V ZB 173/11, NVwZ 2012, 62 Rn. 5 und vom 6. Oktober 2011 V ZB 188/11, juris Rn. 12 a.E.). Diese Grundsätze gelten auch für die Anord-nung von Haft zur Sicherung der Zurückschiebung (Senat, Beschlüsse vom 24. Februar 2011 V ZB 202/10, FGPrax 2011, 146 Rn. 13 ff. und vom 11. Oktober 2017 V ZB 41/17, FGPrax 2018, 41 Rn. 9), an deren Stelle in ihrem Anwendungsbereich die Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung getreten ist.

2. Das danach grundsätzlich erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft H. wegen des dort anhängigen Ermittlungsverfahrens we-gen Sachbeschädigung ist, anders als das Beschwerdegericht meint, nicht nach § 72 Abs. 4 Sätze 3 bis 5 AufenthG entbehrlich.

a) Nach § 72 Abs. 4 Satz 3 AufenthG bedarf es des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht, wenn nur ein geringes Strafverfolgungsinteresse besteht. Dies ist nach Satz 4 der Vorschrift der Fall, wenn die Erhebung der öffentlichen Klage oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen einer Straftat nach § 95 AufenthG oder nach § 9 FreizügG/EU und begleitender Straftaten nach dem Strafgesetzbuch mit geringem Unrechtsgehalt erfolgt ist. Nach § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG sind das u.a. Straftaten mit geringem Unrechtsgehalt nach § 303 StGB, es sei denn, dieses Strafgesetz wird durch verschiedene Handlungen mehrmals verletzt oder es wird ein Strafantrag gestellt.

b) Die Erhebung der öffentlichen Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren betreffen eine im Sinne von § 72 Abs. 4 Sätze 4 und 5 AufenthG "begleitende" Straftat nach dem Strafgesetzbuch mit geringem Unrechtsgehalt, wenn zwischen der Straftat mit geringem Unrechtsgehalt nach § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG und einer Straftat nach § 95 dieses Gesetzes oder § 9 FreizügigG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht.

aa) Was unter einer in diesem Sinne "begleitenden" Straftat zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber in der maßgeblichen Beschlussempfehlung zur Ausländerrechtsnovelle von 2015 (BT-Drucks. 18/5420 S. 28) zwar nicht näher erläutert. Der Sinn dieser Formulierung erschließt sich aber aus dem von dem Gesetzgeber dort mitgeteilten Regelungsmotiv. [...]

bb) In den genannten Urteilen hat der Gerichtshof der Europäischen Union im Anschluss an die Stellungnahme des Generalanwalts in der Rechtssache El Dridi (ECLI:EU:C:2011:205 Rn. 42) entschieden, dass nationale Vorschriften, die die Nichtbefolgung einer Ausweisungsverfügung (dazu: EuGH, Urteil vom 28. April 2011 - Rs. 61/11 PPU - El Dridi, ECLI:EU:C:2011:268 Rn. 59) oder die illegale Einreise bzw. den illegalen Verbleib im Inland nach Auslaufen einer Aufenthaltserlaubnis (dazu: EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2011 - Rs. 329/11 - Achughbabian, ECLI:EU:C:2011:806 Rn. 45) unter (Haft-)Strafe stellen, den Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG, ABl. EG Nr. L 348 S. 98) nicht entsprechen. Die nach solchen Strafvorschriften verhängte Strafhaft diene nämlich nicht der nach Art. 8 der Rückführungsrichtlinie gebotenen unverzüglichen Durchsetzung der vollziehbaren Rückkehrentscheidung, sondern könne deren Vollzug im Gegenteil erschweren oder gar zum Scheitern bringen. [...]

cc) Der Umsetzung dieser Rechtsprechung dient in erster Linie die Herausnahme der Straftaten nach § 95 AufenthG und § 9 FreizügigG/EU aus dem Einvernehmenserfordernis nach § 72 Abs. 4 AufenthG. Die zusätzliche Herausnahme anderer Straftaten ist durch die dargestellte Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht veranlasst. Die zusätzliche Herausnahme "begleitender" Straftaten mit geringem Unwertgehalt dient deshalb ersichtlich nur dazu zu verhindern, dass der durch die Herausnahme der Straftaten nach § 95 AufenthG und § 9 FreizügigG/EU angestrebte Effekt eines Vorrangs der Vollziehung der Rückkehrentscheidung durch die Verfolgung anderer Straftaten verfehlt wird, die mit Straftaten nach § 95 AufenthG und nach § 9 FreizügigG/EU in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen. Dagegen war keine generelle Herausnahme von Straftaten mit geringem Unwertgehalt angestrebt, die einen der in § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG bezeichneten Straftatbestände nach dem Strafgesetzbuch erfüllen.

c) Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft H. war, da die dem Betroffenen vorgeworfene Straftat nicht im Zusammenhang mit einem möglichen Verstoß gegen § 95 AufenthG steht, deshalb nur entbehrlich, wenn das Ermittlungsverfahren wegen der Sachbeschädigung bei Anordnung der Haft durch das Amtsgericht am 6. November 2015 oder, mit Wirkung dann allerdings nur noch für die Zukunft, bei Aufrechterhaltung der Haft durch das Beschwerdegericht mit dem angefochtenen Beschluss vom 2. Dezember 2015 eingestellt worden war oder zu diesen Zeitpunkten ein generelles Einvernehmen der Staatsanwaltschaft H. oder der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft für derartige Delikte vorlag. Das ist nicht festgestellt. [...]