VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 17.10.2018 - 6 A 5213/17 - asyl.net: M26822
https://www.asyl.net/rsdb/M26822
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen früheren Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes und seine Famile, der nach dem Sturz Saddam Husseins als Journalist arbeitete und 2007 nach Syrien floh:

1. Journalisten gelten als eine der am meisten gefährdeten Berufsgruppen im Irak.

2. Eine besondere Gefährdungssituation besteht auch für sunnitische Araber, die unter der ehemaligen Regierung Saddam Husseins (hochrangige) Positionen im Sicherheitsapparat oder der Ba’ath-Partei bekleidet haben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Baath, Geheimdienst, Berufsgruppe, Journalist, nichtstaatliche Verfolgung, schiitische Miliz,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

28 [...] Das Gericht ist aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse sowie unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen von staatlicher Seite ausgesetzt sehen würden, weil der Kläger zu 1. als ehemaliger Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes unter Saddam Hussein Operationen gegen iranische Gruppierungen bzw. Organisationen genehmigt hatte, deren Vertreter nunmehr bedeutende Positionen im irakischen Regierungsapparat bekleiden, ferner, weil der Kläger zu 1. seit dem Jahr 2005 sowohl in Zeitungen als auch im Internet kontinuierlich Artikel veröffentlichte, in denen er die neuen staatlichen und religiösen Machthaber im Irak massiv kritisierte.

29 Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel gelten Journalisten als eine der am meisten gefährdeten Berufsgruppen im Irak (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 146).

30 Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen. Artikel 38 A und B der irakischen Verfassung garantieren die Freiheit der Meinungsäußerung, solange die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt wird. Das "Gesetz zum Schutz von Journalisten" von 2011 hält diesbezüglich u.a. mehrere Kategorien des Straftatbestands der "Diffamierung" aufrecht, die in ihrem Strafmaß z.T. unverhältnismäßig hoch sind (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7. Februar 2017, S. 11). Die Rahmenbedingungen der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit im Irak beschreibt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich in seiner Länderinformation betreffend den Irak für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, a.a.O., S. 120):

31 "Die Verfassung gewährt das Recht auf freie Meinungsäußerung, sofern die Äußerung nicht die öffentliche Ordnung oder die Moral verletzt, Unterstützung für die Ba’ath-Partei ausdrückt oder das gewaltsame Verändern der Staatsgrenzen befürwortet. Der größte Teil der Einschränkungen dieses Rechts kommt durch Selbstzensur auf Grund von glaubhafter Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionelle Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden zustande (USDOS 3.3.2017).

32 Tatsächlich wird die journalistische Arbeit durch Übergriffe auf Journalisten behindert. Nach Angaben von "Reporter ohne Grenzen" ist Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder (AA 7.2.2017). Laut einem Bericht der International Federation of Journalists von 2016 gilt der Irak als das gefährlichste Land für Journalisten (HRW 12.1.2017). Laut Human Rights Watch sind alleine in den Jahren 1990 bis 2015 300 Journalisten getötet worden (HRW 12.1.2017). Auch Familienmitglieder von Journalisten können bedroht werden (OA/EASO 2.2017). Auf dem Index für Pressefreiheit befand sich der Irak im Jahr 2016 auf Platz 158 von 180 Staaten. Journalisten und Medien sind im Irak systematischer Gewalt ausgesetzt. Es kommt auch zu gezielten Morden an Medienschaffenden. Auch in den autonomen Kurdengebieten wurden Journalisten ermordet. Laut "Reporter ohne Grenzen" schützt der Staat bedrohte Journalisten nicht. Politiker aller Couleur behindern die Arbeit kritischer Berichterstatter durch Schikanen und Gerichtsverfahren – häufig mithilfe repressiver Gesetze, die aus der Diktatur Saddam Husseins stammen (ROG o.D.). Das Land nahm im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007 - 2016) des "Committee to Protect Journalists” zudem den weltweit vorletzten Platz in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Danach wurden in den letzten zehn Jahren 71 Morde an Journalisten nicht aufgeklärt. Zuletzt gab es auch einen Fall in der Region Kurdistan-Irak, bei dem ein oppositioneller Journalist mit offenbar durch Sicherheitskräfte beigebrachten Foltermerkmalen tot aufgefunden wurde (AA 7.2.2017)."

33 Sowohl private Dritte als auch staatliche Organe oder quasi-staatliche Organisationen, etwa konfessionelle Milizen, verüben Drohungen und (tödliche) Gewalt gegen Journalisten und sonstige Privatpersonen, die sich zu sensiblen Themen (z.B. Korruption oder Menschenrechtsverstößen von Milizen) öffentlich kritisch äußern (AI, Amnesty Report 2017, Irak. S. 5). So wurden beispielsweise am 12. Januar 2016 der Reporter Saif Talal sowie der Kameramann Hassan al-Anbaki, die für den Fernsehsender al-Sharkia arbeiteten, im Nordwesten der Provinz Diyala erschossen, nachdem sie über einen Selbstmordanschlag in Muqdadiya und Vergeltungsschläge von Milizen gegen arabische Stämme berichtet hatten. Der Sender machte unbekannte Milizionäre für die Tat verantwortlich, die Behörden leiteten jedoch keine gründlichen Untersuchungen ein, um die Tat aufzuklären (AI, a.a.O., S. 5). Einer der am meisten diskutierten Entführungsfälle des Irak war derjenige der im Dezember 2016 gekidnappten Journalistin Afrah Shawqi, welche nur wenige Tage nach Veröffentlichung eines Artikels über die Straffreiheit schiitischer Milizen in der Zeitschrift Asharq al-Awsat von einer bewaffneten Gruppe entführt und gefoltert wurde. Die Entführer ließen ihr Opfer erst frei, nachdem die Öffentlichkeit massiven Druck auf den Premierminister und das Innenministerium ausübte (BFA, a.a.O., S. 13). Im Irak erweist es sich dabei als besonders schwierig, eine Bedrohung von Journalisten o.ä. durch nichtstaatliche Akteure abzugrenzen von einer Gefährdung durch staatliche Organe oder staatsnahe Gruppierungen. Zwischen Vereinigungen, die Journalisten oder Angehörige anderer Berufsgruppen (insbesondere Richter, Wissenschaftlicher und Ärzte) aus ideologischen oder "staatspolitischen" Gründen entführen oder bedrohen, und solchen, die rein kriminelle Zwecke verfolgen, besteht nach Erkenntnissen der Asylbehörden der Republik Österreich lediglich ein schmaler Grat. Hiernach gehen viele Entführungen auf das Konto krimineller Gruppen, die über einen gewissen Schutz durch Stämme verfügen, welche ihrerseits mit der Politik verwoben und oftmals diejenigen Akteure sind, die gerade an Stelle des Staates zur Konfliktlösung oder zum Schutz in Anspruch genommen werden (Bundesasylamt (BAA), Analyse der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 14).

34 Im Falle einer Bedrohung von Medienschaffenden durch religiöse Milizen ergibt sich eine besondere Abgrenzungsschwierigkeit zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Verfolgung aus der engen Einbindung dieser Gruppierungen in die offizielle Sicherheitsstruktur des Irak. Sämtliche religiösen Milizen des Landes sind mittlerweile unter dem Dachverband der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten zusammengefasst. In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten Geistlichen der irakischen Schiiten, Großayatollah Ali al-Sistani, der ebenfalls alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (AI, Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht; die Schätzungen bezüglich ihrer zahlenmäßigen Stärke variieren. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AA, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 gibt das österreichische Bundesamt für Migration und Fremdenwesen die Zahl der Milizen schätzungsweise mit vierzig bis siebzig an, ihre Kämpfer mit 60.000 bis 140.000 (BFA, a.a.O., S. 73).

35 Die PMF- Milizen lassen sich in grob in vier inoffizielle Blöcke einteilen, wobei diese Unterteilung an ihre jeweils ähnlichen Ziele anknüpft, nicht hingegen an formelle Allianzen. Die nicht-schiitischen Milizen bilden den vierten Block und umfassen Sunniten, Yeziden, Christen und andere Minderheiten. Die ersten drei Gruppen bestehen demgegenüber aus schiitischen Milizen (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3). Auch diese sind innerhalb der PMF jedoch nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, a.a.O., S. 97). Den ersten und einflussreichsten Block bilden die pro-iranischen, d.h. vom iranischen Regime etablierten Milizen. Innerhalb dieser Gruppe handelt es sich bei der von Haidi al-Amiri geführten Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization) um die größte und am besten ausgestattete Vereinigung, welche ca. 20.000 Kämpfer umfasst. Andere hier zu verortende Milizen sind Asa’ib Ahl al-Haqq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute oder Chazali-Terrornetzwerk), Kata’ib Hizbullah (Hizbullah Brigades bzw. Hizbullah Brigaden), Saraya al-Khorasani und Harakat al-Nujaba. Hierbei handelt es sich um Gruppierungen, die jeweils der Doktrin des Obersten Religionsführers des Iran (Welāyat-e Faghīh) folgen und politische Ambitionen hegen. Der zweite Block setzt sich aus den Hashd al-Sistani zusammen, d.h. denjenigen Milizen, die im Lager des irakischen Großayatollah al-Sistani stehen (Liwa Ali al-Akbar, Furqat Imam Ali al-Qitaliyah, und Furqat al-Abbas al-Qitaliyah) und dem (früheren) Premierminister Abadi gegenüber loyal sind. Ihre Truppen sind zahlenmäßig schwächer als die pro-iranischen Gegenspieler und setzen sich aus ca. 20.000 Kämpfern zusammen. Ihre Anhänger sind überwiegend durch die Fatwa Sistanis motivierte Freiwillige ohne politischen Ambitionen., die jedoch auf die Unterstützung des irakischen Verteidigungsministeriums zurückgreifen können. Der dritte Block umfasst die Milizen, die den von Ammar al-Hakim geführten Islamic Supreme Council of Iraq (ISIC bzw. SIIC, Oberster Islamischer Rat des Irak (OIRI)) unterstützen, ferner die Anhänger des Predigers Muqtada al-Sadr. Hierbei handelt es sich um einflussreiche politische Fraktionen des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befinden. Die Pro-Hakim-Milizen umfassen dabei die Gruppen Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura. Bei der wichtigsten dem Prediger Sadr loyalen Miliz handelt es sich um die Gruppe Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ehemals bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)).

36 Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel besteht des Weiteren im Irak eine besondere Gefährdungssituation für sunnitische Araber, die unter der ehemaligen Regierung Saddam Husseins (hochrangige) Positionen im Sicherheitsapparat oder der Ba’ath-Partei bekleidet haben. Die Situation sunnitischer Araber im Irak sowie das Verhältnis zur schiitischen Bevölkerungsmehrheit beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) dabei wie folgt:

37 "Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Ba’ath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Ba’ath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff. m.w.N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten "Islamischen Staates" (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16)."

38 Personen, die mit dem Regime Saddam Husseins in Verbindung gebracht wurden, sei es durch ihre Mitgliedschaft in der Ba’ath-Partei oder wegen ihrer (ehemaligen) Funktion bzw. ihres Berufs, sahen sich seit dem Fall des Regimes Saddam Husseins – insbesondere nach 2005, als schiitische Parteien an die Macht kamen – über mehrere Jahre systematischen Angriffen ausgesetzt. Als Verantwortliche hierfür wurden hier insbesondere schiitische Milizen mit Verbindungen zum Iran genannt, insbesondere die Badr-Organisation (ACCORD, Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen, S. 2, 5 der Druckversion m.w.N.). Gegenwärtig kommt es nicht mehr zu einer systematischen Verfolgung von Mitgliedern der Ba’ath-Partei oder des alten Regimes, was vielfach darauf zurückgeführt wird, dass viele dieser Personen bereits in den auf den Regimewechsel im Jahr 2003 folgenden Jahren verfolgt wurden oder aus dem Irak flohen, während sich die Verbliebenen mit den herrschenden Parteien arrangierten. Allerdings besteht auch weiterhin dem Grunde nach eine Gefahr, Opfer gezielter Übergriffe durch reguläre irakischen Sicherheitskräfte oder schiitische Milizen zu werden (UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Ba’athists, Version 1. 0, November 2016, Rn. 2.3.4 f., 6.4; Refugee Review Tribunal Australia, Entscheidung vom 17. Mai 2012 – Case Number 1112306, Rn. 61 f.; ACCORD, a.a.O., S. 2, 4 der Druckversion sowie Anfragebeantwortung vom 18. Februar 2010, Irak: Gefährdung ehemaliger Ba’ath-Mitglieder, Armeeangehöriger bzw. Mitglieder des Vereins "Freunde Saddam Husseins", insbesondere durch schiitische Milizen; Betreiber der Internetseite "darbabl" und Ernsthaftigkeit von Todeslisten; Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen; Anfragebeantwortung vom 10. Februar 2011, Irak: Repressionen gegen ehemalige Mitglieder der Ba’ath-Partei und der Armee nach dem Sturz Saddam Husseins; jeweils m.w.N.). Dass die Auseinandersetzung mit den ehemaligen Anhängern der Ba’ath-Partei nicht abgeschlossen ist, zeigt sich auch daran, dass die irakische Regierung noch im März 2018 per Anordnung die nach dem Regimewechsel vorweggenommene Enteignung der Vermögen des früheren Machthabers Saddam Husseins und mehr als 4000 seiner Anhänger und ihrer Angehörigen bzw. nahen Verwandten nachträglich bestätigte (N-TV, Artikel vom 5. März 2018, "Irak enteignet Saddam Hussein und Vertraute").

39 Inwieweit Personen wegen ihrer Affiliation mit dem vorherigen Regime gefährdet sind, Opfer von Übergriffen zu werden, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab, namentlich dem Ausmaß der Identifikation mit der Ideologie der Ba’ath-Partei, dem ehemaligen Rang oder der Position der betreffenden Person und der öffentlichen Bekanntheit. Anknüpfungspunkt einer Verfolgung einer Person und ihrer Angehörigen kann dabei u.a. sein, dass der Betroffene für die unter der Regierung Saddam Husseins verübten Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird, beispielsweise weil er ein hochrangiges Mitglied der Ba’ath-Partei oder Angehöriger einer repressiven Institution war, etwa eines Geheimdienstes. Rang und Grad allein sind dabei nicht entscheidend, da insbesondere auf Gemeindeebene auch zahlreiche niederrangige Funktionäre von Übergriffen und Anschlägen betroffen waren (ACCORD, Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere  durch schiitische Milizen, S. 1; UK Home Office, a.a.O., Rn. 2.3.9-2.3.11, Rn. 6.1.1-6.1.4, Rn. 6.4.1-6.4.6). Entsprechendes gilt dann, wenn der Betroffene der Unterstützung des andauernden (sunnitischen) Widerstandes gegen die Zentralregierung verdächtigt wird (ACCORD, a.a.O., S. 4). Der letztere Gesichtspunkt hat in Anbetracht der Bedrohung durch den IS nochmals Bedeutung erlangt, weil sich in der Führungsstruktur der Organisation im Irak und in Syrien zahlreiche ehemalige Offiziere des Saddam-Regimes befinden (Welt-Online, Artikel vom 10. August 2015, "Saddam Husseins Offiziere – Die Geheimwaffe des IS"; The Washington Post, Artikel vom 4. April 2015, "The hidden hand behind the Islamic State militants? Saddam Hussein’s"; Zeit Online, Artikel vom 28. August 2014, "Islamischer Staat: Ex-Offiziere von Saddam Hussein haben das Sagen"; UK Home Office, a.a.O., Rn. 5.1.1-5.1.12).

40 Diese Erkenntnisse zur Verfolgung von Journalisten bzw. Regimekritikern, ehemaligen Mitgliedern der Ba’ath-Partei sowie solchen des Sicherheitsapparats unter Saddam Hussein finden ihre sachliche Entsprechung in der informatorischen Anhörung des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung. [...]