VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 29.11.2018 - 14 A 810/17 - asyl.net: M26862
https://www.asyl.net/rsdb/M26862
Leitsatz:

Erfolgreiche Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit:

"Das Ablehnungsgesuch, das erst nach Stellung des Klageantrags in der mündlichen Verhandlung gestellt wird, ist nicht unzulässig, wenn es sich auf die Protokollierung bezieht, die erst mit Zustellung der Protokollabschrift bekannt geworden ist.

Eine wissentliche Protokollierung von nicht existenten Tatsachen der mündlichen Verhandlung durch den Einzelrichter begründet die Besorgnis der Befangenheit des Richters.

Das Vorfertigen einer Erklärung eines Zeugen durch den abgelehnten Richter im laufenden Ablehnungsverfahren begründet für sich allein die Besorgnis der Befangenheit."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Verwaltungsgericht, Richter, Befangenheit, mündliche Verhandlung, Protokoll, Falschbeurkundung, Besorgnis der Befangenheit,
Normen: VwGO § 54 Abs. 1, ZPO § 42
Auszüge:

[...]

16 Das Ablehnungsgesuch ist zulässig. Die Stellung des Gesuchs nach Stellung des Klagantrags im Rahmen der mündlichen Verhandlung bewirkt nicht die Unzulässigkeit des Ablehnungsgesuchs. Die Stellung eines Ablehnungsgesuchs ist nach § 54 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 42 Zivilprozessordnung (ZPO) zulässig, solange die betroffene Instanz noch nicht vollständig abgeschlossen ist (BGH, Beschluss vom 30.08.2016 – I ZB 10/15 –, juris Rn. 3; BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 28.04.2011 – 1 BvR 2411/10 –, juris Rn. 23; G. Vollkommer in: Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. 2018, § 42 ZPO, Rn. 4). Es kann hier unentschieden bleiben, ob ein Verlust des Ablehnungsrechts des Klägers durch die vorherige Antragstellung und Einlassung auf die mündliche Verhandlung nach § 43 ZPO die Zulässigkeit des Ablehnungsgesuchs oder dessen Begründetheit betrifft (als Frage der Begründetheit: G. Vollkommer in: Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. 2018, § 43 ZPO, Rn. 1). Denn jedenfalls ist ein solcher Verlust des Ablehnungsrechts hier nicht hinsichtlich der Rüge der fehlerhaften Protokollierung eingetreten. Nach § 43 ZPO kann eine Partei einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit nicht mehr ablehnen, wenn sie sich bei ihm, ohne den ihr bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat. Das Protokoll der mündlichen Verhandlung und ein damit verbundener Ablehnungsgrund sind dem Kläger und seiner Prozessbevollmächtigten erst nach der mündlichen Verhandlung bekannt geworden. Dass das Ablehnungsgesuch ursprünglich aus anderen Gründen gestellt wurde und die Rüge der Falschprotokollierung erst nach Erhalt der Protokollabschrift im bereits laufenden Ablehnungsverfahren erhoben wurde, berührt nicht die Zulässigkeit des Ablehnungsgesuchs. Da die Stellung eines Ablehnungsgesuchs bis zum Abschluss der Instanz möglich ist, kommt auch ein ergänzendes Vorbringen eines neuen Ablehnungsgrundes im laufenden Ablehnungsverfahren in Betracht. Denn auch die Stellung eines neuen Ablehnungsgesuchs mit dem neuen Ablehnungsgrund wäre bis zum Abschluss der Instanz möglich.

17 Das Ablehnungsgesuch ist auch begründet.

18 Nach § 54 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 42 Abs. 1 und 2 ZPO kommt die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit in Betracht, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit setzt nicht voraus, dass der Richter tatsächlich befangen, voreingenommen oder parteiisch ist. Es genügt, wenn vom Standpunkt der Beteiligten aus gesehen hinreichende objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, an seiner Unparteilichkeit zu zweifeln. Die rein subjektive Besorgnis, für die bei Würdigung der Tatsachen vernünftigerweise kein Grund ersichtlich ist, reicht dagegen zur Ablehnung nicht aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.04.2018 – 1 C 1/17 –, juris Rn. 3 m.w.N.).

19 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Besorgnis der Befangenheit des abgelehnten Richters begründet. Bei Gesamtwürdigung der unter Gründe I. dargestellten Umstände können bei einer ruhig und bedacht denkenden Partei vernünftige Zweifel an der Neutralität, Distanz und Selbstkontrolle des abgelehnten Richters bestehen.

20 Die Besorgnis der Befangenheit liegt hier darin begründet, dass in das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 03.09.2018 Vorgänge aufgenommen wurden, die tatsächlich nicht stattgefunden haben.

21 Grundsätzlich kann ein Ablehnungsgesuch nicht erfolgreich auf die Verfahrensweise oder Rechtsauffassung eines Richters gestützt werden. Es ist nicht Sinn und Zweck des Ablehnungsrechts, Handlungen des Gerichts in einem besonderen Instanzenzug zu überprüfen, um so die Unzufriedenheit der Parteien abzuarbeiten. Vielmehr geht es bei der Prüfung einer möglichen Befangenheit ausschließlich um eine mögliche Parteilichkeit des Richters und nicht um die inhaltliche Richtigkeit seiner Handlungen und Entscheidungen, deren Überprüfung allein den Rechtsmittelgerichten vorbehalten ist. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist indes dann geboten, wenn die Gestaltung des Verfahrens oder die Entscheidungen des Richters sich so weit von den anerkannten rechtlichen – insbesondere verfassungsrechtlichen – Grundsätzen entfernen, dass sie aus Sicht der Partei nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen und dadurch den Eindruck einer willkürlichen oder doch jedenfalls sachfremden Einstellung des Richters erwecken. Dies ist anhand von objektiven Kriterien festzustellen (VGH München, Beschluss vom 04.02.2015 – 22 CS 15.33 –, juris Rn. 10; KG Berlin, Beschluss vom 08.06.2006 – 15 W 31/06 –, juris Rn. 7).

22 Derartig grobe Verfahrensverstöße sind im vorliegenden Fall gegeben. Eine wissentliche Protokollierung von nicht existenten Vorgängen im Rahmen der mündlichen Verhandlung erfüllt strafrechtlich den Tatbestand einer Falschbeurkundung im Amt nach § 348 Strafgesetzbuch (StGB) und stellt damit eine grobe Verletzung von Richteramtspflichten dar. Dies wiederum drängt bei der dadurch betroffenen Partei den Eindruck einer sachwidrigen auf Voreingenommenheit beruhenden Benachteiligung auf. [...]