VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 11.12.2018 - 15 A 5700/16 - asyl.net: M26881
https://www.asyl.net/rsdb/M26881
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung für zwei Albanerinnen (Mutter und Tochter) wegen Misshandlung durch den Ehemann bzw. Vater und, im Falle der Tochter, drohende Zwangsverheiratung.

2. Keine Möglichkeit des internen Schutzes wegen der fehlenden Möglichkeit, sich an einem anderen Ort in Albanien eine Existenzgrundlage zu schaffen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Albanien, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Zwangsehe, soziale Gruppe, häusliche Gewalt, familiäre Gewalt, nichtstaatliche Verfolgung, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Schilderungen der Klägerinnen stehen auch im Einklang mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist in Albanien weitverbreitet (Lagebericht vom 10. August 2018, Seite 10). Einer Studie der UN zufolge ist häusliche Gewalt das größte geschlechtsspezifische Problem in Albanien. Danach erleidet jede zweite Frau in Albanien zeit ihres Lebens häusliche Gewalt. Es besteht Einigkeit darüber, dass geschlechtsmotivierte Gewalt ein Problem von nationaler Dimension ist. Gründe hierfür sind die auf dem Balkan verbreitet männliche Machomentalität, der niedrige Bildungsstand, die wirtschaftliche Situation und die vorherrschende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Machomentalität und patriarchalische Strukturen sind insbesondere in den ärmeren Regionen von Albanien tief verwurzelt. Häusliche Gewalt gegen Frauen begegnet weitläufiger Akzeptanz (UK Home Office, Report of a Home Office Fact-Finding Mission - Albania - Februar 2018, Seite 11 f.). Arrangierte Zwangsheiraten sind in Albanien zwar kein weitverbreitetes Phänomen, wobei es zur Häufigkeit solcher Heiraten keine verlässlichen Zahlen gibt, da hierzu bislang keine Studien durchgeführt worden sind. Es ist aber wohlbekannt, dass Zwangsheiraten -- gerade in patriarchalischen Familienstrukturen und in ländlichen und abgelegenen Landesteilen - praktiziert werden (UK Home Office, Country Policy an Information Note - Albania: Women fearing domestic abuse, Dezember 2017, Seite 49; US State Department, Albania 2017 Human Rights Report, Seite 19).

Die erlittene körperliche und sexuelle Gewalt stellt zweifellos Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG dar. Auch die drohende Zwangsverheiratung stellt eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG dar. Die Erzwingung der Heirat ist eine das Selbstbestimmungsrecht der Frau verletzende, verwerfliche Handlung und erniedrigende Behandlung, die gegen internationale Konventionen verstößt und in Deutschland mit § 237 StGB strafbewehrt ist (VG Lüneburg, Urteil vom 15. Mai 2017 - 3 A 119/16 - juris).

Die Verfolgungshandlungen knüpften auch an einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG an, nämlich an der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Eine solche Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie - wie hier - allein an das Geschlecht anknüpft, d.h. die Verfolgung gegen eine Frau muss sich gerade wegen ihres Geschlechts gegen sie richten (Hailbronner, Ausländerrecht, § 3b AsylG, Rn. 34). Eine Verfolgung knüpft in jedem Fall an das Geschlecht an, wenn die Akteure der Verfolgung Frauen und Männer unterschiedlich behandeln (NK-AuslR/Winfried Möller, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 3b Rn. 19). Hier war die ausgeübte Gewalt durch den Ehemann bzw. Vater ersichtlich Ausdruck seines patriarchalischen Rollenverständnisses, d.h. seiner-gemäß dieses Rollenverständnisses - gegenüber seiner Frau und Tochter übergeordneten Stellung und seiner Grundannahme, dass sie ihm als Mann zu Diensten zu sein hatten und seiner Disziplinierung auch durch körperliche Gewalt unterlagen. Dies lässt sich aus den Schilderungen der Klägerinnen in der Anhörung beim BAMF und in der mündlichen Verhandlung schließen und steht auch im Einklang mit dem Inhalt der einschlägigen Erkenntnismittel. Dass die Gewalt des Ehemannes/Vaters unmittelbar, gezielt und kausal an das Geschlecht der Klägerinnen anknüpfte, lässt sich auch daraus ableiten, dass der Sohn bzw. Bruder der Klägerinnen der Gewalt des Vaters in wesentlich geringerem Ausmaß unterlag als die Klägerinnen. Dass der Ehemann/Vater der Klägerinnen insoweit eine Differenzierung nach dem Geschlecht vorgenommen hat, lässt sich daraus folgern, dass der einzige konkret von beiden Klägerinnen geschilderte Vorfall, bei dem ihr Sohn/Bruder Opfer von Gewalt des Vaters geworden ist, sich so zutrug, dass der Sohn/Bruder in dem Bestreben, seine Mutter vor dem Vater zu schützen, bei einem Angriff des Vaters auf seine Mutter dazwischen ging und dabei vom Vater getroffen wurde. Während also die weiblichen Mitglieder des Haushalts die beiden Klägerinnen - häufig, regelmäßig und gezielt Opfer von Gewalttaten des Ehemanns/Vaters wurden, war dies hinsichtlich des Sohnes/Bruders der Klägerinnen offensichtlich nicht der Fall.

Auch die drohende Zwangsverheiratung knüpfte ersichtlich an das Geschlecht der Klägerin zu 2) an (VG Lüneburg, Urteil vom 15. Mai 2017 - 3 A 119/16 - m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 3b AsylG, Rn. 35 m.w.N.).

Die Klägerinnen mussten sich im konkreten Einzelfall auch nicht auf staatlichen Schutz vor der Gewalt ihres Ehemannes/Vaters bzw. der drohenden Zwangsverheiratung verweisen lassen. Das Gericht verkennt nicht, dass der albanische Staat in den letzten Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen hat, die der Prävention von häuslicher Gewalt und dem Schutz von häuslicher Gewalt betroffener Frauen dienen. So hat der albanische Staat im Jahr 2006 per Gesetz einen Mechanismus eingerichtet, um Opfern von Gewalt innerhalb der Familie eine Schutzanordnung zur Verfügung zu stellte, die von einem Zivilgericht auf Antrag des Opfers erteilt werde. Falls der Täter eine "direkte und unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit, Gesundheit oder das Wohlergehen des Opfers" darstelle, müssten Notfall-Schutzanordnungen innerhalb von 24 Stunden durch ein Gericht erfolgen [ACCORD, Anfragebeantwortung zu Albanien: 1) Gesetze zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt, Anwendung; 2) Möglichkeiten, Anzeige zu erstatten, zur Verfügung gestellter Schutz nach Anzeige; 3) Informationen zu Frauenhäusern/Einrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt (Standorte, Voraussetzungen für die Aufnahme, Kapazitäten), 3. Juli 2017, Seite 2]. Allerdings geht das Gericht nach den ihm vorliegenden Erkenntnismitteln davon aus, dass diese Maßnahmen in der Praxis nur unzureichend umgesetzt werden und den Klägerinnen daher nicht den erforderlichen Schutz vor erneuten gewaltsamen Übergriffen durch ihren Ehemann/Vater bieten würden. Die Möglichkeiten einer Frau, sich gegen häusliche Gewalt effektiv zur Wehr zu setzen, hängen maßgeblich von der wirtschaftlichen und sozialen Position einer Frau ab. Es ist von Bedeutung, ob die Frau ein Unterstützungsnetzwerk hat, das sich um sie kümmern kann, ob sie ein unabhängiges Einkommen hat oder über eine andere Möglichkeit verfügt, für ihren eigenen Unterhalt und den Unterhalt möglicher Kinder aufzukommen (ACCORD, a.a.O., Seite 5). Über ein solches Unterstützungsnetzwerk verfügten die Klägerinnen im konkreten Einzelfall nicht. [...]

Die im Vergleich zur Verbreitung häuslicher Gewalt verhältnismäßig geringe Zahl von Anzeigen und Schutzanordnungsverfahren ist u.a. auf den beschränkten Zugang von Frauen zu Rechtshilfediensten, insbesondere in ländlichen und abgelegenen Gebieten, zurückzuführen. Zudem werden die rechtlich vorgesehenen Möglichkeiten zur Verhinderung und zum Schutz vor häuslicher Gewalt in der Praxis nur unzureichend umgesetzt. Dies ist auf die mangelnde Koordination der verantwortlichen Stellen und fehlende Qualifikationen und Kapazitäten bei den verantwortlichen Mitarbeitern zurückzuführen. Ein weiterer Punkt zur Besorgnis ist die ungenügende Anzahl von Unterkünften für Frauen, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt seien, und die restriktiven Kriterien für die Aufnahme in derartige Unterkünfte. Zudem werden Schutzanordnungen und Notfall-Schutzanordnungen in der Praxis häufig nicht umgesetzt (ACCORD, a.a.O., Seite 6; ebenso: UK Home Office, Albania: Women fearing domestic abuse, Dezember 2017, Seite 18). Danach konnten die Klägerinnen hier nicht auf staatliche oder private Schutzmöglichkeiten vor der erlittenen häuslichen Gewalt verwiesen werden. [...]

Den Klägerinnen müssen sich auch nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verweisen lassen. Eine solche besteht nach § 3e Abs. 1 AsylG, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hier kann von den Klägerinnen nicht erwartet werden, dass sie sich in einem anderen Landesteil von Albanien niederlassen. Maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob die Niederlassung zumutbar ist, sind zum einen die am Ort der möglichen inländischen Fluchtalternative allgemeinen Gegebenheiten, zum anderen die individuellen Faktoren des Betroffenen (Sprache, Bildung, persönliche Fähigkeiten, vorangegangener Aufenthalt in dem in Betracht kommenden Landesteil, örtliche und familiäre Bindungen, Geschlecht, Alter, ziviler Status, Lebenserfahrung, gesundheitliche Situation, verfügbares Vermögen). Ergibt sich bei Auswertung dieser Faktoren, dass der Betroffene am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden wird, d.h. dort das wirtschaftliche und soziale Existenzminimum gewährleistet ist, ist die Niederlassung zumutbar (Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 3e, Rn. 19 ff.).

Dies kann im Falle der Klägerinnen nicht angenommen werden.

Albanien ist eine stark patriarchalisch geprägte Gesellschaft, in der Frauen eine untergeordnete Stellung einnehmen. Die soziale Stellung von Frauen ist daher in vielen Regionen besorgniserregend; Albanien weist ausweislich der Nichtregierungsorganisation Save The Children von allen europäischen Ländern die schlechtesten Lebensbedingungen für Frauen und Kinder auf. Es gibt keine Gewähr für den Erhalt staatlicher Unterstützung. Sozialeinrichtungen und soziale Schutzsysteme für alleinstehende Frauen mit Kindern sind in den meisten Regionen Albaniens kaum vorhanden (vgl. SFH-Länderanalyse "Albanien: Posttraumatische Belastungsstörung; Blutrache", Februar 2013, S.2 ff. m.w.N.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18. September 2014 - 13a K 5609/13.A -). Unter diesen Grundbedingungen kann nicht angenommen werden, dass es den Klägerinnen gelingen wird, eine ausreichende Lebensgrundlage für sich herzustellen, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Klägerinnen Unterstützung durch ihre Familie erhalten würden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Klägerin zu 1) ausweislich der vorgelegten ärztlichen Atteste in einer labilen psychischen Verfassung, die durch den in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck bestätigt wurde, befindet und deswegen nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie in der Lage sein wird, die beschriebenen vielfältigen Schwierigkeiten in Albanien zu bewältigen. [...]