VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.11.2018 - 12 S 2504/18 - asyl.net: M26887
https://www.asyl.net/rsdb/M26887
Leitsatz:

Eilrechtsschutz bei abgelehnten Asylfolgeanträgen nur ausnahmsweise gegenüber Ausländerbehörde:

"1. In Fällen, in denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Asylfolgeverfahren von einer erneuten Abschiebungsandrohung abgesehen hat, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Verhinde­rung der Abschiebung gegen das Bundesamt bzw. die Bundesrepublik Deutschland als dessen Rechtsträger zu richten, soweit der Asylfolgeantragsteller Einwendungen geltend macht, die der Prüfung und Entscheidung durch das Bundesamt unterliegen; dies gilt etwa für die Rüge des Asylfolgeantragstellers, wegen Verstoßes gegen die Rückführungsrichtlinie dürfe die ursprüngliche asylrechtliche Abschiebungsandrohung bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Hauptsacheverfahren über den Asylfolgeantrag nicht vollzogen werden.

2. Abweichend von diesem Grundsatz kommt allerdings in zugespitzten Ausnahmefällen der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Ausländerbehörde bzw. deren Rechtsträger in Betracht, wenn der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Bundesrepublik zu spät käme. Ein solcher Ausnahmefall kann aber nur dann angenommen werden, wenn etwa gegenüber dem Ausländer eine konkrete Abschiebungsmaßnahme begonnen worden ist und zu diesem Zeitpunkt nicht mehr damit gerechnet werden kann, dass beim Bundesamt ein insoweit zuständiger und im Außenverhältnis handlungsbefugter Bediensteter anwesend sein wird, der eine entsprechende gerichtliche Entscheidung umsetzen kann."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Ausländerbehörde, Antragsgegner, Zuständigkeit, einstweiliger Rechtsschutz, Asylverfahren, Asylfolgeantrag, Abschiebungsandrohung, atypischer Ausnahmefall, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, sachliche Zuständigkeit, einstweilige Anordnung,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, AufenthG § 60a, AsylG § 71 Abs. 1, AsylG § 71 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, RL 2008/115/EG Art. 6, RL 2008/115/EG Art. 13, AsylG § 13 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, VwVfG § 51, AsylG § 71,
Auszüge:

[...]

13 1. In die ausschließliche Prüfungskompetenz des Bundesamts fallen nicht nur die Entscheidungen über Asylanträge (§ 13 Abs. 2 AsylG), mit denen über die Gewährung von Asyl und die Zuerkennung internationalen Schutzes befunden wird, sondern auch die Entscheidungen darüber, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen (vgl. § 24 Abs. 2 AsylG). Dasselbe gilt auch für die vom Bundesamt gemäß §§ 34 ff. AsylG getroffenen Abschiebungsandrohungen. Auch der Rechtsstreit über die Ablehnung eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ist eine asylrechtliche Entscheidung, auch wenn Gegenstand des Streits allein das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 VwVfG ist; denn die Rechtsgrundlage für den Folgeantrag findet sich im Asylgesetz (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.03.1996 - 9 B 714.95 - juris Rn. 4).

14 Davon ausgehend wendet sich der Antragsteller mit seiner Argumentation, auf Grundlage der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Gnandi" (Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 -) dürfe seine Abschiebung bis zur gerichtlichen Hauptsacheentscheidung in seinem Asylfolgeverfahren nicht erfolgen, im Kern gegen die vom Bundesamt getroffene Abschiebungsandrohung, die die Rechtsgrundlage für die von der Ausländerbehörde beabsichtigte Abschiebung des Antragstellers darstellt. Diese Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung i.S.v. Art. 6 RL 2008/115/EG dar (vgl. dazu etwa BVerwG, Urteil vom 21.08.2018 - 1 C 21.17 - juris Rn. 18, Urteil vom 25.07.2017 - 1 C 10.17 - juris Rn. 23 und Urteil vom 17.09.2015 - 1 C 26.14 - juris Rn. 17) mit der Folge, dass die unionsrechtlichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG Anwendung finden und im Falle eines Verstoßes dagegen der Abschiebungsandrohung entgegengehalten werden können. Dementsprechend beruft sich der Antragsteller jedenfalls sinngemäß auf die unionsrechtlichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG - etwa über die Möglichkeit von Rechtsbehelfen in Art. 13 - und leitet daraus sein Recht auf vorläufigen weiteren Aufenthalt bzw. auf vorläufige Suspendierung der vom Bundesamt verfügten Abschiebungsandrohung ab. Er macht danach zwar inhaltlich keine Gründe geltend, welche die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens rechtfertigen könnten, er rügt aber die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Asylfolgeverfahrens, wie sie der nationale Gesetzgeber in den §§ 71 Abs. 1 und Abs. 5, 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG vorgesehen hat, und macht damit seinen Asylfolgeantrag zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Prüfung. Die dargestellte Argumentation des Antragstellers, wonach in seinem Asylfolgeverfahren unionsrechtliche Vorgaben - sei es nach der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG, sei es nach den Asylverfahrensrichtlinien 2005/85/EG bzw. 2013/32/EU - nicht beachtet würden, ändert danach nichts an der Einschätzung einer asylrechtlichen Streitigkeit. Das Bundesamt war und ist dazu berufen, die unionsrechtlichen Einwendungen des Antragstellers und hier insbesondere die Einwendungen auf Grundlage der Rückführungsrichtlinie im Rahmen des Asylfolgeantrags zu prüfen und ggf. im Rahmen seiner Entscheidung - hier etwa bei der Frage, ob eine Mitteilung des Bundesamts nach § 71 Abs. 5 S. 2 AsylG gegenüber der Ausländerbehörde erfolgen kann - zu berücksichtigen.

15 2. In Fällen, in denen - wie hier - das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (§ 71 Abs. 1 S. 1 AsylG) abgelehnt und gleichzeitig von einer erneuten Abschiebungsandrohung abgesehen hat, ist deshalb - zur vorläufigen Verhinderung der Abschiebung - der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach mittlerweile wohl einhelliger Auffassung grundsätzlich gegen die Bundesrepublik Deutschland zu richten mit dem Ziel, dieser aufzugeben, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilung nach § 71 Abs. 5 S. 2 AsylG abgeschoben werden darf (vgl. Bayerischer VGH, Beschlüsse vom 26.01.2009 - 19 CE 09.130 - juris Rn. 2 und vom 18.07.2002 - 10 CE 02.1295 - juris Rn. 3; Hessischer VGH, Beschlüsse 13.09.2018 - 3 B 1712/18.A - juris Rn. 3 und vom 14.12.2006 - 8 Q 2642/06.A - juris Rn. 9; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 14.08.2000 - 4 Bs 48/00.A - AuAS 2001, 10; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.02.2000 - 18 B 1141/99 - juris Rn. 8 und VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 13.09.2000 - 11 S 988/00 - juris Rn. 4 bis 7 und vom 02.12.1997 - A 14 S 3104/97 - juris Rn. 3; vgl. auch Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 71 Rn. 389 bis 390 mwN; Hailbronner, Ausländerrecht, § 71 AsylG Rn. 108 bis 110).

16 Werden allerdings nur Duldungsgründe i.S.v. § 60a AufenthG geltend gemacht, so ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit immer gegen den Träger der Ausländerbehörde zu richten; denn die Ausländerbehörde, die die Ausreisepflicht vollzieht, hat sachlich über Duldungsgründe i.S.v. § 60a AufenthG zu befinden. Ein Duldungsgrund kann insbesondere dann gegeben sein, wenn der jeweilige Antragsteller eine Reiseunfähigkeit im engeren oder im weiteren Sinne (inlandsbezogenes Abschiebungshindernis) geltend macht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 01.06.2017 - 11 S 658/17 - juris und vom 10.07.2003 - 11 S 2622/02 - juris) oder sich im Hinblick auf Art. 6 GG auf eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung wegen schützenswerter familiärer Gründe berufen kann (vgl. dazu etwa Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl., § 60a AufenthG Rn. 21 bis 27). Beruft sich danach ein Antragsteller sowohl auf asylrechtliche Gründe als auch auf Duldungsgründe i.S.v. § 60a AufenthG, hat dies zur Konsequenz, dass Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl gegen die Bundesrepublik Deutschland als auch gegen den Träger der Ausländerbehörde gerichtet werden müssen (vgl. Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 71 Rn. 398). [...]

18 3. Auch im Falle einer asylrechtlichen Streitigkeit - wie hier - kommt allerdings ausnahmsweise der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO gegenüber der Ausländerbehörde in Betracht, wenn der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Bundesrepublik bzw. jedenfalls die dann zu deren Umsetzung noch erforderliche Mitteilung an die Ausländerbehörde, dass nicht vollzogen werden darf, zu spät kämen; in diesen zugespitzten Ausnahmefällen ist eine solche Rechtsschutzmöglichkeit aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) möglich (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 26.01.2009, aaO juris Rn. 2; Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 71 Rn. 391; Hailbronner, aaO § 71 AsylG Rn. 111). Eine solche Fallgestaltung liegt hier jedoch nicht vor.

19 In Anbetracht der den Beteiligten heute regelmäßig zur Verfügung stehenden modernen Telekommunikationsmittel wird ein solcher Ausnahmefall allenfalls dann in Erwägung gezogen werden können, wenn etwa gegenüber dem jeweiligen Antragsteller eine konkrete Abschiebungsmaßnahme begonnen worden ist und zu diesem Zeitpunkt nicht mehr damit gerechnet werden kann, dass beim Bundesamt ein insoweit zuständiger und vor allem im Außenverhältnis auch entsprechend handlungsbefugter Bediensteter anwesend sein wird, der eine entsprechende gerichtliche Entscheidung umsetzen kann und auch wird.

20 In diesem Zusammenhang muss, bevor der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Ausländerbehörde in Betracht gezogen wird, zudem noch berücksichtigt werden, dass bei besonderer Eilbedürftigkeit die einstweilige Anordnung ausnahmsweise auch ohne vorherige Anhörung der Gegenseite ergehen kann (so ausdrücklich auch Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 71 Rn. 391). Darüber hinaus kann und muss das Verwaltungsgericht im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG, insbesondere was die Zeit bis zu einer gerichtlichen Entscheidung betrifft, für eine effektive Gestaltung des Rechtsschutzverfahrens Sorge tragen, auch wenn die Ausländerbehörde an dem Verfahren nicht beteiligt ist. § 83a AsylG sieht in diesem Zusammenhang ausdrücklich vor, dass das Gericht der Ausländerbehörde das Ergebnis seines Verfahrens gegenüber der Bundesrepublik formlos mitteilen darf. Im Übrigen wird nach den bisherigen Erfahrungen in der Praxis die Ausländerbehörde, die sich insoweit lediglich als Vollzugsorgan in Bezug auf die Entscheidungen des Bundesamts versteht, die Durchführung der Abschiebung auf eine telefonische Mitteilung des Verwaltungsgerichts unverzüglich abbrechen (so bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.09.2000, aaO juris Rn. 8). [...]

22 Der Antragsteller hätte - unabhängig von diesen Ausführungen - im Falle einer stattgebenden Entscheidung gegenüber der Ausländerbehörde auch keinen Anspruch darauf gehabt, dass seine Abschiebung bis zur Entscheidung über seinen Asylfolgeantrag im asylrechtlichen Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht ausgesetzt wird. Im Rechtsverhältnis zur Ausländerbehörde kommt in den zugespitzten Ausnahmefällen, in denen Rechtsschutz gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr erlangt werden kann, nur eine kurzfristige Aussetzung - bis das Verwaltungsgericht über den vorläufigen Rechtsschutzantrag im Verhältnis zum Bundesamt entscheiden kann bzw. entschieden hat - in Betracht. Deshalb wird durch eine ggf. gegenüber der Ausländerbehörde erlassene einstweilige Anordnung das vorläufige Rechtsschutzverfahren gegenüber dem Bundesamt nicht überflüssig. Danach kann der Ausländer eine einstweilige Anordnung gegenüber dem Träger der Ausländerbehörde nur mit dem Ziel erlangen, die Abschiebung bis zur Entscheidung des obligatorischen Einzelrichters (§ 76 Abs. 4 AsylG) im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegenüber der Bundesrepublik Deutschland auszusetzen (so auch Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 71 Rn. 392 auch mit Hinweisen zur Tenorierung). [...]