Zum Bestehen einer Staatsgewalt in Afghanistan; regelmäßig keine politische Verfolgung; keine extreme Gefährdungslage.(Leitsatz der Redaktion)
Ein Anspruch des Klägers besteht weder auf Anerkennung als Asylberechtigter noch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG.
Die Kammer geht dabei davon aus, dass Afghanistan seit dem Abschluss der traditionellen Ratsversammlung (Loya Jirga) im Juni 2002 und der Wahl des (Übergangs-)Präsidenten Hamid Karzai auch im Sinne der klassischen Drei-Elemente-Lehre (G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, s. 396 ff.) als Staat zu betrachten ist, der neben Staatsgebiet und Staatsvolk auch wieder über eine legitime (Übergangs-)Regierung verfügt, die für den afghanischen Staat handelt und damit grundsätzlich auch Staatsgewalt ausübt (ebenso VG Chemnitz, Beschl. vom 18. 07. 2002 - A 4 K 30488/98 - "rudimentäre staatliche Gewalt"). In der traditionellen Ratsversammlung hat sich in der für Afghanistan üblichen Weise die Fähigkeit der Organisation einer Ordnung auf dem Staatsgebiet manifestiert, die neben der Wahl der Regierung auch die Erarbeitung einer Verfassung beschlossen hat und somit Ausdruck der inneren Souveränität Afghanistans war. Der Staat Afghanistan ist nach außen souverän, d. h. keiner anderen Autorität unterstellt. Dem steht nicht entgegen, dass die Regierung Karzai derzeit nur im Raum Kabul (Dr. Danesch vom 05. 08. 2002 an VG Schleswig, S. 1 f.) mit Hilfe der dort stationierten internationalen Schutztruppe - ISAF- eigenständig eine übergreifende Ordnung durchzusetzen vermag und im Übrigen auf die Kooperation der regionalen und lokalen Machthaber in den Provinzen angewiesen ist. Zwar ist von der Existenz einer Staatsgewalt erst dann auszugehen, wenn sich diese tatsächlich durchgesetzt hat (Grundsatz der Effektivität). Dies ist im Hinblick auf die Regierung Karzai jedenfalls insoweit der Fall, als auch in den Teilen Afghanistans, in denen noch Verwaltungsstrukturen bestehen, die aus der Loya Jirga hervorgegangene Regierung grundsätzlich als afghanische Regierung anerkannt und nicht - wie dies etwa zuletzt in Bezug auf die sich bekämpfenden Gruppierungen der Taleban und der Nordallianz der Fall war - jeweils für sich selbst die Regierungsgewalt für Afghanistan in Abspruch genommen wird. Da die Regierung Karzai einerseits außerhalb Kabuls derzeit noch nicht in der Lage ist, die staatlichen Funktionsbereiche effektiv zu kontrollieren (vgl. Auswärtiges Amt - AA -, Ad-Hoc-Lagebericht vom 04. 06. 2002, S. 4 f.), andererseits die Machthaber in den Provinzen die Regierung zumindest verbal anerkennen (Dr. Danesch a.a.O., S. 2), geht die Kammer davon aus, dass dort für die insoweit noch handlungsunfähige Regierung Karzai gehandelt wird und dementsprechend hoheitliche Maßnahmen in den Provinzen der afghanischen Regierung in Kabul auch zugerechnet werden müssen.
Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln geht von der Regierung Karzai derzeit regelmäßig keine politische Verfolgung mehr für die unter dem Regime der Taleban gefährdeten Bevölkerungsgruppen, insbesondere die ethnischen und religiösen Minderheiten aus (Dr. Danesch a.a.O., S. 4 f.), auch wenn traditionell bestehende Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien lokal in unterschiedlicher Intensität fortbestehen (AA a.a.O., S. 7 f.). Auch Personen, die der DVPA, dem Geheimdienst Khad oder den kommunistischen Streitkräften nicht in herausgehobener Stellung angehört haben, droht derzeit keine politische Verfolgung durch die Regierung Karzai (ebenso VG Chemnitz, Beschl. v. 18. 07. 2002 - A 4 K 30488/98).
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung eine begründete Furcht vor politischer Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Denn die Angaben, die er in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich einer von ihm behaupteten Vorverfolgung geltend gemacht hat, sind vage und unsubstantiiert geblieben. Gegen die Glaubwürdigkeit des Klägers spricht weiterhin, dass er sich in zentralen Bereichen seiner Verfolgungsgeschichte widersprochen hat und diese Widersprüche lediglich mit dem wenig überzeugenden Hinweis auf eine unzureichende Übersetzung bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt begründen konnte.
Dem Kläger steht auch ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 AuslG nicht zur Seite.
Nach Satz 2 dieser Vorschrift werden Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, bei Entscheidungen nach § 54 AuslG berücksichtigt, sodass die Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG insoweit grundsätzlich gesperrt ist. Eine solche Entscheidung nach § 54 AuslG, d. h. der Erlass eines generellen Abschiebestopps, ist in Sachsen nicht erfolgt und wird nach Auffassung der Kammer auch nicht durch den Beschluss der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 06. 06. 2002 ersetzt, der in seiner Ziffer 3 feststellt, dass angesichts der derzeitigen zivilen und militärischen Lage sowie des Fehlens ausreichender Flugverbindungen die zwangsweise Rückführung ausreisepflichtiger afghanischer Staatsangehöriger derzeit grundsätzlich nicht in Betracht kommt und Duldungen von vollziehbar ausreisepflichtigen Afghanen vor einer erneuten Prüfung zunächst um bis zu 6 Monate verlängert werden können. Zwar geht auch die Kammer davon aus, dass die Ausländerbehörden in Sachsen auf Grund dieser Vereinbarung der Innenminister und -senatoren Duldungen für afghanische Staatsangehörige erteilen werden, ein wirksamer Abschiebungsschutz, wie ihn eine Duldung vermittelt, ergibt sich aus diesem Beschluss - der im Übrigen auch eine Abschiebung von Straftätern im Einzelfall nicht ausschließt - für den Kläger jedoch noch nicht, sodass ihm auch nicht zugemutet werden kann, ohne zielstaatsbezogene Abschiebungsschutzentscheidung zu bleiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 12. 07. 2001, DVBI. 2001, 1531).
Auch ein längerfristiges faktisches Abschiebungshindernis (vgl. § 55 Abs. 2 AuslG), wie es die Kammer auf Grund der lange Zeit unterbrochenen Flugverbindungen nach Afghanistan im letzten Jahr noch angenommen hat (Urt. v. 13.11.2001 - A 4 K 30916/96 -), besteht derzeit nicht mehr.
Eine extreme Gefahrenlage dergestalt, dass der Kläger "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 234 328>; Urt. v. 12.7.2001, a.a.O., m.w.N.; st. Rspr.) ist nach Auffassung der Kammer jedoch derzeit in Afghanistan jedenfalls im Raum Kabul nicht gegeben (ebenso OVG Hamburg, Urt. v. 14.6.2002 - 1 Bf 37 und 38/02.A). Dies gilt sowohl für die allgemeine Sicherheitslage, die dort zwar als fragil, insgesamt aber zufriedenstellend eingestuft wird (AA a.a.O., S. 7; Dr. Danesch a.a.O., S. 6) als auch für die Versorgung, insbesondere mit Lebensmitteln (AA a.a.O., s. 7; Dr. Danesch a.a.O., S. 6). Die Anwesenheit der Schutztruppe ISAF in Kabul als auch die Tätigkeit verschiedener internationaler Hilfsorganisationen, die jedenfalls in Kabul und den übrigen Großstädten des Landes die Grundversorgung derzeit gewährleisten (Dr. Danesch a.a.O., S. 6), lassen auch unter Berücksichtigung des Umstandes, das UNHCR auf eine weiterhin im Lande bestehende Lebensmittelknappheit hinweist (Afghanistan aktuell vom 30.5. und 7.6.2002; vgl. aber auch AA a.a.O., S. 7, wonach das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen - WFP - sein Afghanistan-Programm bis Dezember 2002 verlängert hat), aus der Sicht der Kammer eine nur unter sehr engen Voraussetzungen anzunehmende Bewertung der Lage als extreme Gefahrensituation im Sinne der oben dargestellten ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zu.