VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.10.2002 - A 2 S 1517/00 - asyl.net: M2690
https://www.asyl.net/rsdb/M2690
Leitsatz:

Der Norden des Iraks (Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimaniya) bietet nicht nur für Kurden, sondern für alle Binnenflüchtlinge des Iraks eine sog. inländische Fluchtalternative, ungeachtet der Frage, ob sie dort über familiäre, gesellschaftliche oder politische Bindungen verfügen (wie Urteil vom 11.4.2002 A 2 S 712/01 -).(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Illegale Ausreise, Sippenhaft, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Gebietsgewalt, KDP, PUK, Quasi-staatliche Verfolgung, Existenzminimum, Reisewege, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Flüchtlingslager, Versorgungslage, Soziale Bindungen, Hilfsorganisationen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 3
Auszüge:

 

Dem unverfolgt ausgereisten Kläger steht auch ein nach § 51 Abs. 1 AuslG zu berücksichtigender Nachfluchtgrund nicht zu. Denn für den Fall einer Rückkehr in den Irak drohen ihm asylrechtlich erhebliche Maßnahmen mit der zu fordernden beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht. Ob mit dieser Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, es drohe dem Kläger Verfolgung wegen der hier allein in Betracht kommenden Stellung eines Asylantrags im Bundesgebiet, seinem mehrjährigen Aufenthalt hier oder wegen der Möglichkeit einer Sippenhaft, ist fraglich geworden. Der Senat hat sie für arabische Volkszugehörige aus dem Zentralirak bei einer Rückkehr dorthin bejaht (dazu das Urteil vom 5.12.2000 - 2 S 1/98 -; ferner Beschluss vom 28.1.2002 - 2 S 1052/01 -), sie indes für einen Iraker kurdischer Volkszugehörigkeit, der in der sog. Schutzzone im Nordirak wohnt, ausgeschlossen (Urteil vom 21.2.2002 - 2 S 1690/00 -). Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner abschließenden Entscheidung. Denn politisch motivierten Maßnahmen der zentralirakischen Staatsgewalt ist der Kläger bei einer Rückkehr nicht ausgesetzt, da ihm die Rückkehr in den Norden des Landes möglich und zumutbar ist und ihm dort auch nicht wegen seinen Fall kennzeichnender besonderer Umstände Maßnahmen der Zentralregierung drohen, weil er in deren Blickfeld geraten sein könnte (dazu BVerwG, Urteil vom 17.1.1989, BVerwGE 81, 170, 174; Urteil des Senats vom 21.1.1999 - A 2 S 2429/98 -).

Der Kläger kann danach auf die autonomen Kurdengebiete im Norden des Iraks (Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaymaniya) als Ort der geschilderten Fluchtalternative verwiesen werden, da ihm dort eine Abschiebungsschutz ausschließende Sicherheit vor Verfolgung gewährleistet ist.

Die irakische Staatsmacht übt gegenwärtig in den genannten Provinzen keine effektive Gebietsgewalt aus, von der politische Verfolgung ausgehen könnte. Es fehlt auch an Anzeichen dafür, dass sich an dieser Situation in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Auch bleibt festzuhalten, dass der irakische Staat seine Gebietsherrschaft dort noch nicht in einem Maß verloren hat, dass diese Region asylrechtlich als Ausland zu betrachten wäre (so der Senat im Urteil vom 21.1.1999 - A 2 S 2429/98 -; ferner Urteile vom 21.1.1999 - A 2 S 2429/98 -, vom 5.12.2000 - A 2 S 1/98 - und Urteil vom 11.4.2002 - A 2 S 712/01 -). Nach wie vor fehlt es an konkreten Erkenntnissen dafür, dass der Irak seine Staatsgewalt auf die Autonomiegebiete im Norden auszudehnen sucht (AA, Lagebericht vom 5.9.2001, S. 9; Lagebericht vom 20.3.2002, S. 10: "in hohem Maß unwahrscheinlich").

Festzustellen ist auch, dass in der die genannten Gebiete umfassenden Schutzzone für irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit keine Gefahr politischer Verfolgung durch den irakischen Staat droht, es sei denn, sie seien in das Blickfeld dieses Regimes geraten und würden deshalb gesucht oder etwa Opfer eines gezielten Anschlags irakischer Sicherheitsdienste (dazu Senat, Urteil vom 21.1.1999 - A 2 S 2429/98 -). Dass Letzteres beim Kläger der Fall sein könnte, ist nicht erkennbar.

Dem Kläger drohen in dem genannten Gebiet der drei nordirakischen Provinzen auch keine verfolgungsunabhängigen sonstigen Nachteile oder Gefahren, die nach ihrer Tragweite und Gewicht einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichstünden und die - als existenzielle Gefährdung (BVerfGE 80,315,343 f.) - am Herkunftsort im Zentralirak so nicht bestünden.

Namentlich das zu fordernde Existenzminimum ist ihm in den genannten Gebieten gewährleistet.

Die Zumutbarkeit, die inländische Fluchtalternative zu ergreifen, wird auch nicht dadurch beeinflusst, dass der Kläger den Ort, an dem ihm die Sicherheit geboten wird, nicht erreichen könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.1.2001, BVerwGE 112, 345). Für ihn als Kurde irakischer Staatsangehörigkeit besteht die zumutbare Möglichkeit, den Norden des Iraks über die Türkei zu erreichen. Abschiebungsschutz ist daher in seinem Fall nicht geboten.

Dies gilt auch mit Blick auf die Bestimmung in § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG.

Der Einwand des Klägers, in der Rechtsprechung des Senats zur Zumutbarkeit der inländischen Fluchtalternative werde die Prüfung der individuellen Lebensumstände des Betroffenen vernachlässigt und fälschlicherweise davon ausgegangen, alle Flüchtlinge aus dem Zentralirak hätten sich in wirtschaftlicher Notlage befunden, während sie in Wahrheit regelmäßig erst infolge ihrer Flucht ihre Existenzgrundlage verloren hätten, ist nicht berechtigt. Mit ihm wird verkannt, dass es regelmäßig nicht darum gehen kann, ob Nachteile jeglicher Art am Ort der inländischen Fluchtalternative drohen, die so am Herkunftsort nicht bestehen, sondern ausschlaggebend sein muss, ob solche Nachteile in Rede stehen, die auch die Annahme einer Gefährdung des Existenzminimums rechtfertigen.

Unabhängig davon drohte dem Kläger auch dann kein Abgleiten unter das genannte Existenzminimum, wenn man die persönlichen Bindungen im Nordirak - seien es familiäre, stammesmäßige oder verwandtschaftliche - außer Acht lässt. Denn mittlerweile ist davon auszugehen, dass allen Binnenflüchtlingen aus dem Zentralirak, ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit, in den genannten Provinzen eine Fluchtalternative eröffnet ist (dazu Urteil des Senats vom 11.4.2002 - A 2 S 712/01 -; so auch UNHCR vom 29.4.2002 an VG Leipzig). Das für das Existenzminimum Notwendige ist - wenn es nicht aus eigener Kraft beschafft werden kann - bei den Flüchtlingen aus dem Zentralirak jedenfalls durch eine ausreichende Hilfe von dritter Seite gewährleistet (DOI vom 3.4.2002 an VG Greifswald; 001 vom 6.5.2002 an VG Leipzig: alle Binnenflüchtlinge werden vom WFP versorgt).

Diese vom Senat getroffene Einschätzung ist auch nicht mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu hinterfragen. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 31.7.02 - 1 B 128.02 - das die Annahme einer inländischen Fluchtalternative für Kurden bejahende Urteil des OVG Sachsen-Anhalt v. 06.12.2001 (Asylmagazin 2002, 19) aufgehoben, weil dieses eine eigene Sachkunde zur Frage der Lebensmittelversorgung in den in den Provinzen eingerichteten Lagern für Binnenflüchtlinge nicht dargelegt habe. Darum kann es nicht gehen, nimmt man den Fall des Klägers in Blick, der - wie dargelegt - als Kurde nicht auf eine Unterbringung in einem der Lager des Nordiraks angewiesen ist, weil er dort über familiäre und/oder verwandtschaftliche Bindungen verfügt und deshalb auch eine Existenzgefährdung nicht zu befürchten hat. Im Übrigen wird in der angeführten Entscheidung selbst darauf abgehoben, dass eine Auskunft der eigentlich zuständigen Unterorganisation der Vereinten Nationen (dem World-Food- Program - WFP -) zu der Frage nahegelegen habe, ob und warum sie selbst die Lebensmittellieferungen als ausreichend ansieht. Auf eine solche Angabe kann sich der Senat im vorliegenden Fall aber beziehen, die zudem auch inhaltlich die Feststellung trägt, eine Existenzgefährdung wegen der Lebensmittelversorgung sei für Binnenflüchtlinge im Nordirak nicht zu befürchten (dazu die Wiedergabe im Amtsbericht Nr.4.3.).

Selbst wenn man - unabhängig von der geschilderten Erkenntnislage - eine existenzielle Notlage wegen der angeführten Versorgungslage bejahen würde, ist die Annahme einer inländischen Fluchtalternative für Binnenflüchtlinge des Iraks nicht ausgeschlossen. Denn eine solche Notlage lässt diese Annahme einer inländischen Fluchtalternative nur dann entfallen, wenn diese Not am Herkunftsort - ohne die dortige Verfolgung - so nicht besteht, sie also ihre Ursache in der Verfolgung hat (dazu BVerwG, Urteil vom 9.9.1997, BVerwGE 105, 204). Geht es um einen unverfolgt ausgereisten Betroffenen, muss - anders als bei Vorverfolgten - die wirtschaftliche Lage im verfolgungsfreien Gebiet mit derjenigen verglichen werden, die im Zeitpunkt einer Rückkehr in den Heimatstaat am Herkunftsort besteht (BVerwG, Urteil vom 9.9.1997, a.a.O.). Dabei ist grundsätzlich von einer generalisierenden Betrachtungsweise auszugehen, die allerdings die Berücksichtigung individueller Besonderheiten nicht ausschließt (so BVerwG, Beschluss vom 16.6.2000, Buchholz 402.24 § 51 AuslG Nr. 34).

Zu dieser Lage ergeben sich auf Grund der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel übereinstimmende Aussagen dahin, dass sich die sozialen und ökonomischen Verhältnisse im Nordirak seit 1999 deutlich verbessert haben und im Verhältnis zu der des Zentraliraks sich als günstiger darstellen (Amtsbericht Nr. 2.5 "Wohlstandsniveau ist sichtbar höher als im Zentralirak"; UNHCR vom März 2002; AA Lagebericht vom 20.3.2002, S. 23; DOI vom 6.5.2002 an VG Leipzig, vom 3.4.2002 an VG Greifswald; Jaho/Savelsberg vom 1.4.2002 an BayVGH).

Auf Grund der insgesamt günstigeren Verhältnisse im Nordirak gestalten sich danach die allgemeinen Verhältnisse für die Teile der irakischen Bevölkerung, die auf den "Warenkorb" des genannten Programms zur Deckung ihres Nahrungs-Grundbedarfs angewiesen sind, dort besser als im Zentral- und Südirak (so ausdrücklich DOI vom 20.11.2001 an OVG Sachsen-Anhalt), dessen Bevölkerung zu 2/3 von den Lebensmittelpaketen der UN abhängig sind (DOI vom 20.11.2001 an OVG Sachsen-Anhalt und vom 3.4.2002 an VG Greifswald), obwohl die im "Warenkorb" zusammengefassten Nahrungsmittel nach einem zwischen der irakischen Regierung und dem Sanktionskomitee ausgehandelten Plan für den gesamten Irak, also auch für den Nordirak, auf Veranlassung des Bagdader Regimes einheitlich eingekauft werden.