OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 25.10.2018 - 5 A 51/16.A - asyl.net: M26920
https://www.asyl.net/rsdb/M26920
Leitsatz:

Kein Schutzstatus für alleinstehenden Mann aus Libyen:

1. In Libyen herrscht zwar ein innerstaatlicher Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG. Ohne individuelle gefahrerhöhende Umstände liegen jedoch die Voraussetzungen für subsidiären Schutz bei einem gesunden Mann aus dem Ort Zaltan nicht vor.

2. Es liegt kein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt vor, da das quantitativ ermittelte Verhältnis der verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl für eine solche Annahme nicht ausreicht. 

3. Eine für die Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG erforderliche sehr hohe Gefahrenlage ist trotz schlechter humanitärer Bedingungen nicht gegeben.

4. Obwohl derzeit keine Abschiebungen von Deutschland nach Libyen erfolgen und zweifelhaft ist, ob diese in zumutbarer Weise durchgeführt werden können, ist die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nicht rechtswidrig. Eine freiwillige Rückkehr ist nämlich auf dem Landweg über Tunesien möglich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libyen, allgemeine Gefahr, Zaltan, extreme Gefahrenlage, willkürliche Gewalt, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, innerstaatlicher Konflikt, Tunesien, beachtliche Wahrscheinlichkeit, gefahrerhöhende Umstände, persönliche gefahrerhöhende Umstände, Nordosten, zivile Opfer, Opferzahlen, Al-Zawya, Tripolis, Abschiebung, Rücknahmeabkommen, Miliz, humanitäre Lage,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG. [...]

Es liegt zwar ein innerstaatlicher Konflikt vor (a). Jedoch fehlt es an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge des Konflikts in der Region Zaltan (b).

a) [...] Der Senat geht mit dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht davon aus, dass derzeit in Libyen ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt. [...]

Im Amnesty-report Libyen 2018 mit Stand 12/2017 heißt es hierzu: "Die konkurrierenden Regierungen und Hunderte von Milizen und bewaffnete Gruppen kämpften 2017 weiterhin um die Vorherrschaft und die Kontrolle über bestimmte Gebiete, lukrative Handelsrouten sowie strategisch wichtige Militärstandorte. [...]

Es wird also ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt geschildert, bei dem auch viele Opfer zu beklagen sind und der auch bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht beendet ist.

Hierfür sprechen auch die vom Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research (ACCORD) regelmäßig auf der Grundlage der Daten des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) für Libyen zusammengestellten Konfliktvorfälle nach bestimmten Kategorien (z.B. Kämpfe, Fernangriffe, Gewalt gegen Zivilpersonen, etc.) und diesbezügliche Todesfälle (veröffentlicht im Internet unter: https://www.ecoi.net/). [...]

b) Es fehlt an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge des Konflikts in der hier maßgeblichen Region Zaltan. [...]

Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 19 m.w.N.). Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). [...] Das Bundesverwaltungsgericht hat [...] bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres, ein Risiko von 1:800 bzw. 1:1.000 verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen. [...]

Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist hier die im Nordosten Libyens etwa 40 km von der Grenze zu Tunesien gelegene Stadt Zaltan. Dies ist der Heimatort des Klägers und dort oder jedenfalls in der Nähe wohnt sein Onkel mit seinen beiden Cousins. Zudem wohnen seine Eltern und Schwestern im nahen Tunesien. Das in dieser Gegend vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens einer jeden Zivilperson anzunehmen.

Gesicherte Zahlen zu zivilen Opfern der Auseinandersetzungen in Libyen existieren nicht. Da es in Libyen derzeit keine Regierung gibt, die im ganzen Land über Verwaltungshoheit verfügt, gibt es auch keine offizielle Stelle, die Opferzahlen erfasst und veröffentlicht. [...]

Für ganz Libyen ergibt sich auf der Basis der Zahlen von UNSMIL ausgehend von einer Gesamteinwohnerzahl von rund 6,6 Millionen für 2016 ein Risiko von ca. 1:11.640, in Libyen im Laufe eines Jahres als Zivilperson verletzt oder getötet zu werden, und für 2017 von ca. 1:19.580. Legt man die Zahlen für den Zeitraum Januar bis September 2018 zugrunde und rechnet diese auf ein Jahr hoch, ergibt sich für das Jahr 2018 ein Risiko von ca. 1:9.900.

Für die hier maßgebliche Stadt Al-Zawya ergibt sich ausgehend von einer Einwohnerzahl von 200.000 für 2017 ein Risiko von 1:18.200 und für 2018 von 1:22.200. Für die ca. 200 km entfernte Stadt Tripolis beträgt die Zahl ziviler Opfer nach UNSMIL 2016 79 (50 Verletzte, 29 Tote), 2017 36 (17 Verletzte und 19 Tote) und für die Monate Januar bis September 2018 86 (34 Verletzte, 52 Tote). Hochgerechnet auf das gesamte Jahr 2018 beträgt die Zahl ziviler Opfer 115. Das ergibt bei Zugrundelegung einer Einwohnerzahl von 1.780.000 ein Risiko für 2016 von 1:22.500, für 2017 von 1:49.500 und für 2018 von 1:15.500.

Diese Zahlen sind nach oben zu korrigieren. So führt das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 3. August 2018 aus, die Vereinten Nationen hätten 2017 in Libyen 371 zivile Opfer bewaffneter Kampfhandlungen gezählt, was aber von der tatsächlichen Opferzahl weit entfernt sein dürfte. Selbst bei einer Vervielfachung der vorgenannten Ergebnisse zur Berücksichtigung möglicher nicht bekannt gewordener Vorfälle um mehr als das Doppelte ergäbe sich für Libyen insgesamt ein Risiko, das noch weit von dem vom Bundesverwaltungsgericht für unbedenklich gehaltenen Risiko von 1:800 bzw. 1:1.000 entfernt ist. Gleiches gilt für die Städte Al-Zawya und Tripolis. [...]

Es liegen auch keine gefahrerhöhenden Umstände vor. Individuelle Gründe hat der Kläger nicht geltend gemacht. Der Kläger gehört auch nicht einer Gruppe an, für die ein besonderes Verfolgungsrisiko besteht (vgl. UNHCR, position on returns to Libya, update II, vom September 2018, Rn. 35). Der Kläger hat insoweit geltend gemacht, einer seiner beiden entführten Brüder sei Offizier gewesen. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich jedoch keine Verfolgungsgefahr für Familienmitglieder von Personen, die als Offiziere in der Armee Gaddafis gedient haben. [...]

II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (1.) noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).

1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen in Libyen besteht nicht. [...]

Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung der schlechten humanitären Verhältnisse maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Libyen keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage. Es ist nicht festzustellen, dass in Libyen ein Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trägt, insbesondere, dass er etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde. [...]

Das vorgenannte sehr hohe Schädigungsniveau wird im Falle des Klägers nicht erreicht. Er gehört nicht zu einer der vorbenannten vulnerablen Gruppen, deren Situation hier keiner Bewertung bedarf. Er kann in Zaltan etwa bei seinem Onkel unterkommen und er ist arbeitsfähig, so dass eine adäquate Unterkunft einschließlich des Zugangs zu elementaren sanitären Einrichtungen sowie der Zugang zu Nahrung gewährleistet sind. Bei dem Kläger handelt es sich um einen gesunden Mann, weshalb er aktuell auch von den Auswirkungen des prekären Gesundheitssystems nicht in besonderer Weise betroffen ist.

2. Auch aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot. [...]

III. Auch die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung nach Libyen stellen sich nicht als rechtswidrig dar.

Es kann hier dahinstehen, ob eine Ausreiseaufforderung und eine Abschiebungsandrohung rechtswidrig sind, wenn feststeht, dass sowohl eine freiwillige Rückkehr als auch eine zwangsweise Abschiebung nur auf ganz bestimmten Reisewegen in Betracht kommen, welche entweder die Erreichbarkeit des Ziellandes überhaupt oder die Erreichbarkeit relativ sicherer Landesteile unzumutbar erscheinen lassen. Denn es bedarf grundsätzlich derjenige des Schutzes der Bundesrepublik Deutschland nicht, der eine geltend gemachte Gefährdung in dem Zielstaat der Abschiebung durch zumutbares eigenes Verhalten, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört, abwenden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 15. April 1997 - 9 C 38.96 -, juris Rn. 27). Eine freiwillige Ausreise und Rückkehr ist jedoch jedenfalls auf dem Landweg über Tunesien möglich.

Derzeit erfolgen keine Abschiebungen aus Deutschland nach Libyen und es ist zweifelhaft, ob solche in für die Betroffenen zumutbarer Weise durchgeführt werden können. Das Auswärtige Amt führt hierzu im Lagebericht vom 3. August 2018 aus, es existierten keine funktionierenden bilateralen Rückübernahmeabkommen zwischen EU-Staaten und Libyen. Abmachungen mit Ministerien und deren Behörden seien grundsätzlich wenig belastbar. [...]

Abschiebungen können nur auf dem Luftweg direkt nach Libyen erfolgen. Der Senat geht davon aus, dass die Ausländerbehörden bzw. das Auswärtige Amt wegen einer Abschiebung jedenfalls nicht mit salafistischen Milizen wie der Rada-Miliz verhandeln, weshalb eine Abschiebung über einen Flughafen, der von einer solchen Miliz kontrolliert wird, nicht in Betracht kommt. Ob es Flughäfen in Libyen gibt, die von vertrauenswürdigen Kräften kontrolliert werden und über die eine Abschiebung in zumutbarer Weise möglich ist, kann hier letztlich dahinstehen. Denn eine freiwillige Ausreise auf dem Landweg, etwa über Tunesien, ist in zumutbarer Weise möglich. [...]