OVG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 17.01.2019 - 1 B 333/18 - asyl.net: M26927
https://www.asyl.net/rsdb/M26927
Leitsatz:

Keine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung für verurteilten Straftäter trotz bevorstehender Eheschließung:

"1. § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG kann nicht auf Fälle angewandt werden, in denen der Ablauf des Aufenthaltstitels und die verspätete Stellung des Verlängerungsantrags vor dem 1. August 2012 erfolgt sind.

2. Die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis ist in der Regel ein geringerer Eingriff in Art. 8 EMRK als eine Ausweisung, so dass auch die Anforderungen an die Rechtfertigung geringer sind.

3. Ein Duldungsanspruch kann ausnahmsweise auch bei unmittelbar bevorstehender Eheschließung mit einer oder einem deutschen Staatsangehörigen nicht bestehen, wenn eine Aufenthaltsbeendigung noch vor dem Eheschließungstermin zum Schutz kollidierender Verfassungsgüter (insbesondere dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit Dritter) geboten und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit verhältnismäßig ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Achtung des Familienlebens, Duldung, beabsichtigte Eheschließung, Ausweisung, Straftat, Wiederholungsgefahr, Integration, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 81 Abs. 4, EMRK Art. 12, EMRK Art. 8, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht ging zu Unrecht davon aus, dass der verspätet gestellte Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 7.6.2006 gem. § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG noch Fiktionswirkung auslöste. Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung auf die der Sache nach mit Art. 1 Nr. 25 des Gesetzes vom 1.6.2012 (BGBl. I S. 1224) eingefügte und am 1.8.2012 in Kraft getretene Regelung des § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG gestützt. Die Frage, ob ein Antrag auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels die Fiktionswirkung auslöst, ist indes nach der im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechtslage zu beurteilen. In diesem Zeitpunkt (7.6.2006) enthielt § 81 Abs. 4 AufenthG noch keine Regelung, die es ermöglichte, einem erst nach Ablauf des Aufenthaltstitels gestellten Verlängerungsantrag Fiktionswirkung beizumessen. Zu der damaligen Rechtslage hat das Bundesverwaltungsgericht vielmehr entschieden, dass ein verspätet gestellter Verlängerungsantrag keine Fiktionswirkung auslöst und davon auch bei "leichter Verspätung" keine Ausnahme gemacht werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.6.2011 – 1 C 5/10 – NVwZ 2011, 1340 [1341 – Rn. 15 f.]). Eine rückwirkende Anwendung des § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG auf Verlängerungsanträge, die vor dem Inkrafttreten der Norm gestellt worden sind, ist mangels einer entsprechenden Geltungszeit- oder Übergangsbestimmung nicht möglich (Benassi, InfAuslR 2013, 53 [54]; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 26.3.2013 – OVG 7 S 18.13 – juris Rn. 4; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 22.09.2016 – 10 B 791/16 –, juris Rn. 17; Nds. OVG, Beschl. v. 24.03.2017 – 8 LA 197/16 –, juris Rn. 11 f.). [...]

Der Senat erinnert daran, dass zulässiger Gegenstand des vorliegenden Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht die Ausweisungsverfügung, sondern die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist. Die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels ist in der Regel ein geringerer Eingriff als eine Ausweisung, weil sie anders als jene nicht zu einem Einreise- und Aufenthaltsverbot und dem Verbot der Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels führt (vgl. EGMR [GK], Urt. v., 18.10.2006, - 46410/99 - Üner ./. NL, NVwZ 2007, 1279 [1281 – Rn. 59]). Mit dieser geringeren Eingriffsintensität korrespondieren geringere Anforderungen an die Rechtfertigung. Der Antragsteller lebt momentan keine eheliche Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen. Die bloße Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hindert ihn nicht daran, später nach einer Eheschließung einen Antrag auf ein Visum zum Familiennachzug und anschließend auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu stellen. Ein an die bloße Abschiebung anknüpfendes Einreise- und Aufenthaltsverbot hat die Antragsgegnerin nicht angeordnet (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 – BeckRS 2017, 118023 Rn. 71 f.). Ob die zeitgleich mit der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis verfügte Ausweisung und die mit ihr verbundene Sperrwirkung rechtmäßig sind, wenn der Antragsteller mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist, wird das Verwaltungsgericht nach einer eventuellen Hochzeit in dem (auch) gegen die Ausweisung gerichteten Klageverfahren zu prüfen haben. [...]

Dem Antragsteller hat auch keinen Anspruch aus § 60a Abs. 2 AufenthG, bis zu der für den 5. Februar 2019 terminierten Eheschließung mit seiner deutschen Verlobten geduldet zu werden.

Aus der durch Art. 6 Abs. 1 GG sowie Art. 12 EMRK geschützten Eheschließungsfreiheit folgt im Grundsatz ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung, wenn die Eheschließung unmittelbar bevorsteht (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 28.09.2016 – 1 B 153/16 –, juris Rn. 2 m.w.N. auf die Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte). Die Voraussetzung eines unmittelbaren Bevorstehens der Eheschließung ist inzwischen – anders als zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts – erfüllt, da ein Eheschließungstermin für den 5. Februar 2019 bestimmt wurde.

Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG kann jedoch, auch wenn es keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt, wie jedes andere im Grundgesetz "vorbehaltlos" gewährleistete Grundrecht aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts eingeschränkt werden (vgl. von Coelln, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 23; Uhle, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 6 Rn. 21). Das Bundesverfassungsgericht hat den Schutzgehalt der Eheschließungsfreiheit dahingehend beschrieben, dass der Staat die Verwirklichung der gemeinsamen Lebensentscheidung nicht endgültig scheitern lassen darf, ohne dass dies durch ein anerkennenswertes höheres Interesse gerechtfertigt ist (BVerfG, Beschluss vom 4. 5. 1971 - 1 BvR 636/68 -, BVerfGE 31, 58 [85] – Hervorhebung nicht im Original). Daher kann auch bei unmittelbar bevorstehender Eheschließung mit einer oder einem deutschen Staatsangehörigen ausnahmsweise kein Duldungsanspruch aus Art. 6 Abs. 1 GG bestehen, wenn eine Aufenthaltsbeendigung noch vor dem Eheschließungstermin zum Schutz kollidierender Verfassungsrechtsgüter – insbesondere dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit Dritter (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) – geboten und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit verhältnismäßig ist. Dies ist vorliegend der Fall. [...]

Hinzu kommt, dass die Anmeldung der Eheschließung erst am 28. Dezember 2018 vorgenommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Verlobten bereits, dass die Antragsgegnerin eine Aufenthaltsbeendigung in allernächster Zeit beabsichtigt und dass das Verwaltungsgericht in erster Instanz einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt hat. Sie konnten daher bereits im Zeitpunkt der Anmeldung nicht mehr darauf vertrauen, dass die Eheschließung mit Sicherheit in Deutschland durchgeführt werden kann (vgl. VG Augsburg, Beschl. v. 6.12.2017 – Au 6 E 17.1806 – juris Rn. 45; zu der das Gewicht des Bleibeinteresses mindernden Bedeutung solcher Vertrauensgesichtspunkte vgl. auch EGMR, Urt. v. 31.7.2008 – 265/07– Darren Omoregie ./. NOR, juris Rn. 57). [...]