EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 23.01.2019 - C-661/17 M.A. u.a. gg. Großbritannien - asyl.net: M26936
https://www.asyl.net/rsdb/M26936
Leitsatz:

Dublin-Regelungen gelten noch trotz vorgesehenem Brexit:

Dass ein Staat seine Absicht erklärt, aus der Europäischen Union auszutreten, heißt nicht, dass er nicht mehr verpflichtet ist, unionsrechtliche Vorschriften wie z.B. die Dublin-III VO zu beachten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Austritt, Europäische Union, Unionsrecht, Zuständigkeit, Ermessensklausel, Kindeswohl, Rechtsmittel, Rechtsbehelf, Familieneinheit, Ermessen, Brexit,
Normen: VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, EUV Art. 50,
Auszüge:

[...]

53 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass ein als "zuständig" im Sinne dieser Verordnung bestimmter Mitgliedstaat seine Absicht mitgeteilt hat, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, den die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaat dazu verpflichtet, in Anwendung der in diesem Art. 17 Abs. 1 vorgesehenen Ermessensklausel den fraglichen Schutzantrag selbst zu prüfen.

54 Hierzu ist darauf zu hinzuweisen, dass die Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, nicht die Aussetzung der Anwendung des Unionsrechts in diesem Mitgliedstaat bewirkt, so dass die unionsrechtlichen Vorschriften in diesem Staat bis zu seinem tatsächlichen Austritt aus der Union vollumfänglich in Kraft bleiben (Urteil vom 19. September 2018, RO, C-327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 45).

55 Wie in Rn. 10 des vorliegenden Urteils dargelegt, hat die Dublin-III-Verordnung die Verordnung Nr. 343/2003 ersetzt. Hinsichtlich der in Art. 17 Abs. 1 der erstgenannten Verordnung vorgesehenen Ermessensklausel hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass angesichts dessen, dass der Wortlaut dieser Vorschrift im Wesentlichen mit dem der Souveränitätsklausel in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 übereinstimmt, die Auslegung letzterer Vorschrift auf Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung übertragbar ist (Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C-578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 53).

56 Nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung wird ein Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird.

57 Abweichend von diesem Art. 3 Abs. 1 kann jeder Mitgliedstaat nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach solchen Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

58 Aus dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung geht klar hervor, dass diese Vorschrift insofern fakultativ ist, als sie es dem Ermessen jedes Mitgliedstaats überlässt, zu beschließen, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht für die Prüfung zuständig ist. Im Übrigen ist die Ausübung dieser Befugnis an keine besondere Bedingung geknüpft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2013, Halaf, C-528/11, EU:C:2013:342, Rn. 36). Diese Befugnis soll es jedem Mitgliedstaat ermöglichen, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er hierfür nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist (Urteil vom 4. Oktober 2018, Fathi, C-56/17, EU:C:2018:803, Rn. 53).

59 Angesichts des Umfangs des den Mitgliedstaaten auf diese Weise gewährten Ermessens ist es Sache des betreffenden Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis, die durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung eingeräumt wird, Gebrauch machen möchte, und zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen.

60 Diese Feststellung steht im Übrigen auf einer Linie zum einen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den fakultativen Bestimmungen, der zufolge diese Bestimmungen den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen einräumen (Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi, C-394/12, EU:C:2013:813, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zum anderen mit dem Ziel dieses Art. 17 Abs. 1, die Prärogativen der Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren (Urteil vom 5. Juli 2018, X, C-213/17, EU:C:2018:538, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass ein als "zuständig" im Sinne dieser Verordnung bestimmter Mitgliedstaat seine Absicht mitgeteilt hat, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, den die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaat nicht dazu verpflichtet, in Anwendung der in diesem Art. 17 Abs. 1 vorgesehenen Ermessensklausel den fraglichen Schutzantrag selbst zu prüfen. [...]