VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.12.2018 - 12 S 996/18 - asyl.net: M26948
https://www.asyl.net/rsdb/M26948
Leitsatz:

Die Entscheidung eines Ausländers, aus Gewissensgründen seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht aufzu­geben, begründet keinen Anspruch auf Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Einbürgerung, Hinnahme von Mehrstaatigkeit, Gewissensgründe, Objektivierbarkeit, Aufgabe der Staatsangehörigkeit,
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, StAG § 12 Abs. 1, GG Art. 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

35 Im Rahmen des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StAG ist ebenfalls nicht erheblich, dass der Kläger den Verlust seiner Staatsangehörigkeit deshalb als unzumutbar betrachtet, weil die Bosnier zu Beginn der 90erJahre durch einen Genozid der Serben betroffen worden und selbst heute noch ethnische Spannungen zu verzeichnen sind, die auch seinen Schilderungen zufolge vor allem von den Serben ausgehen. § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StAG begünstigt nicht eine "Gruppenbetroffenheit" bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, sondern knüpft an die konkrete Person des Einbürgerungsbewerbers an. Dass die Leidensgeschichte des bosnischen Volkes kein Argument im Rahmen der Mehrstaatigkeit darstellen kann, verdeutlicht zudem § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StAG. Die Regelung lässt bei den Inhabern eines Flüchtlingsausweises nach Art. 28 GFK Mehrstaatigkeit zu. Der Internationale Reiseausweis nach der Genfer Flüchtlingskonvention wird Asylberechtigten bzw. Flüchtlingen im Sinne von § 3 AsylG erteilt. Das Gesetz geht in diesem Fall davon aus, dass Entlassungsbemühungen bei Behörden des Verfolgerstaates stets unzumutbar sind (vgl. Geyer in Hofmann, AuslR, 2. Aufl., § 12 StAG Rn. 26). Diese seit dem 28. August 2007 geltende Fassung des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StAG ist gegenüber früheren Fassungen restriktiver (vgl. zur Änderungshistorie Berlit in GK-StAR, § 12 Rn. 241 f. <Stand November 2014>; siehe auch § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AuslG 1990, wonach Mehrstaatigkeit hinzunehmen war, wenn bei Angehörigen bestimmter Personengruppen, insbesondere politischen Flüchtlingen, die Forderung nach Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit eine unzumutbare Härte bedeuten würde). Führt das, was eine Person im Herkunftsstaat erlebt (hat), nicht zu einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (mit der Folge der Ausstellung eines Flüchtlingsausweises), sind Ereignisse dort, die nicht die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft begründen - auch wenn sie menschenrechtswidrig (gewesen) sind - einbürgerungsrechtlich im Rahmen des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StAG nicht relevant. Ansonsten wäre die restriktive Regelung des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StAG überflüssig.

36 3.) Auch soweit sich der Kläger darauf beruft, sein Gewissen verbiete ihm die Aufgabe der Staatsangehörigkeit seines Herkunftsstaats, begründet dies keinen Anspruch auf Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit. Der Kläger hat eine Gewissensentscheidung mit Blick auf die Staatsangehörigkeit schon nicht schlüssig vorgetragen (a). Selbst wenn man im Übrigen zu seinen Gunsten eine entsprechende Gewissensentscheidung unterstellen würde, führt dies nicht dazu, dass er - unter entsprechender Auslegung von § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StAG oder § 12 Abs. 1 Satz 1 StAG - unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit einzubürgern ist (b). [...]

39 Gemessen hieran fehlt es an einem schlüssigen Vortrag einer Gewissensentscheidung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG mit Bezug zur Staatsangehörigkeit. Der Kläger hat mehrfach schriftlich und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat deutlich gemacht, wie sehr er - ausgehend von dem Völkermord an den Bosniern durch die Serben zu Beginn der 90er Jahre und der nach wie vor bestehenden, ihm zufolge allein in die Verantwortung der Republika Srpska und der Serben fallenden ethnischen, religiösen und politischen Spannungen auch innerhalb des Gesamtstaates - die Republika Srpska und die Serben verabscheut. Die Beibehaltung seiner bosnisch-herzegowischen Staatsangehörigkeit dient nach seinem Vorbringen dazu, dass die mit dem Leid der Bosnier errungene bosnisch-herzegowinischen Staatsangehörigkeit aufrechterhalten bleibt und dass die Serben nicht endgültig die Bosnier vernichten. Ungeachtet dessen ist der Kläger aber nach wie vor in seinem Herkunftsort, der in der Entität Republika Srpska liegt, unter der Anschrift des Elternhauses seiner Mutter gemeldet und hat die Staatsangehörigkeit dieser Entität. Dem Kläger wird die Staatsangehörigkeit des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina durch die Staatsangehörigkeit der Entität der Republika Srpska vermittelt (vgl. hierzu Art. 1 Nr. 7 lit a) der Verfassung von Bosnien und Herzegowina vom 14. Dezember 1995, abgedruckt bei Jessel-Holst, Abschnitt Bosnien und Herzegowina, <Stand 1.1.2017> in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht). Obwohl sich der Kläger eigenen Angaben zufolge bei Aufenthalten in Bosnien-Herzegowina überwiegend in der Wohnung seiner Eltern in ... und damit in der Föderation von Bosnien und Herzegowina aufhält, hat er aus Gründen der Bequemlichkeit nichts daran geändert, dass er nach wie vor die Staatsangehörigkeit der Republika Srpska hat - und damit die der Entität, die er verabscheut. Dass er - ungeachtet seiner juristischen Ausbildung und der in ... in einer Anwaltskanzlei absolvierten Wahlstation - sich mit dem Staatsangehörigkeitsrecht seines Herkunftsstaates seinem Bekunden zufolge bislang nicht so genau beschäftigt hat, macht sein Vorgehen nicht plausibler. Auch mit dem Umstand, dass die Verfassung von Bosnien und Herzegowina vom 14. Dezember 1995 ausweislich des Art. I Nr. 7 lit d) Fälle der Mehrstaatigkeit begrenzen will, den Besitz einer zusätzlichen fremden Staatsangehörigkeit vom Vorhandensein eines entsprechenden bilateralen Abkommens abhängig macht und Doppelstaater in Bosnien-Herzegowina und in den Entitäten nur dann wählen können, wenn Bosnien und Herzegowina ihr Wohnsitzstaat ist (vgl. Jessel-Holst, Abschnitt Bosnien und Herzegowina, S. 9 ff. <Stand 1.1.2017> in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht), hat sich der Kläger nicht näher auseinandergesetzt. Soweit er in der Berufungsverhandlung betont, ihm sei das Wahlrecht nicht wichtig und Politik könne man nicht mit Willenserklärung ändern, erschließt sich nicht, welche aktive Bedeutung er seiner jetzigen Staatsangehörigkeit, die er beibehalten will, überhaupt beimisst. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, dass er sich in einem reflektierenden Entscheidungsprozess mit den Unterschieden zwischen Volk, Nation und Staat beschäftigt hätte.

40 b) Selbst wenn man ungeachtet der vorstehenden Ausführungen zu Gunsten des Klägers eine glaubhaft gemachte Gewissensentscheidung gegen den Verlust der Staatsangehörigkeit Bosnien und Herzegowinas unterstellen würde, verhilft ihm dies nicht zu einer Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit. Es liegt kein Eingriff in seine Gewissensfreiheit vor. Der Kläger wird von der öffentlichen Gewalt nicht verpflichtet, gegen ein Gebot bzw. Verbote des Gewissens zu handeln. Er wird nicht gezwungen, seine Staatsangehörigkeit aufzugeben und Deutscher zu werden. Ihm räumt das Staatsangehörigkeitsrecht die Möglichkeit ein, deutscher Staatsangehöriger zu werden und diesbezüglich eine selbstbestimmte und eigenverantwortliche freie Willensentscheidung über seine Zugehörigkeit zu Deutschland zu treffen. Die Auffassung des Klägers, aus dem - den Deutschen vorbehaltenen - Grundrecht auf Berufsfreiheit nach Art. 12 GG folge mittelbar der Zwang sich einbürgern zu lassen, weil er ohne die Eigenschaft als deutscher Staatsangehöriger nicht Beamter oder Richter werden könne, ändert nichts daran, dass die Einbürgerung in ihrer rechtlichen Ausgestaltung eine begünstigende Entscheidung ist, die auf Antrag ergeht. Soweit das Gesetz die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen für eine positive Entscheidung über den Einbürgerungsantrag verlangt (vgl. § 10 Abs. 1 StAG, § 11 StAG), lässt dies den rechtlichen Charakter der Begünstigung unberührt. Die Gewissensfreiheit ihrerseits ist kein Teilhabe-recht, das auf positive Leistungen des Staates zielt (vgl. Bethge in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 158 Rn. 8).

41 Im Übrigen ist - da das Gewissen ein höchst individuelles Phänomen ist - der Gefahr einer Auflösung der allgemeinen Rechtsordnung durch Gewissensvorbehalte zu begegnen. Auch wenn die Gewissensfreiheit keinen Gesetzesvorbehalt enthält, besteht Einigkeit darüber, dass diese durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt wird (vgl. etwa Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl., Art. 4 Rn. 50 f. m.w.N; siehe auch Bethge in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 158 Rn. 38 ff.). Das Grundgesetz weist die Entscheidung über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu (Art. 20 Abs. 2 GG, Art. 38 Abs. 1 GG, Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG). Ihm obliegt es im Rahmen seiner ihm verfassungsrechtlich zukommenden Gestaltungsfreiheit auch die Voraussetzungen für eine Einbürgerung festzulegen. Dabei kann der Gesetzgeber - geleitet durch das Wesen der Staatsangehörigkeit als Ausdruck der exklusiven politischen Identität - das Ziel verfolgen, das Zustandekommen von Mehrstaatigkeit zu begrenzen und hierfür besondere Tatbestände formulieren (vgl. näher Haack in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, § 205 Rn. 17 ff.). Aus der Gewissensfreiheit kann niemand das Recht herleiten, die Rechtsordnung nach seinen Gewissensvorstellungen zu gestalten, und verlangen, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung gemacht wird (BVerfG, Beschlüsse vom 02.05.2007 - 2 BvR 475/02 - juris Rn. 6, vom 13.12.2006 - 1 BvR 2084/05 - juris Rn. 26 und vom 18.04.1984 - 1 BvL 43/81 - juris Rn. 35; BVerwG, Urteil vom 18.06.1997 - 6 C 5.96 - BVerwGE 105, 73 <78>). Eine Auslegung und Ausgestaltung der Voraussetzungen für eine Einbürgerung nach individuellen Gewissensvorstellungen würde aber eintreten, wenn man hier dem Kläger folgen würde. [...]