VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 19.03.2018 - 8 L 2032/17 - asyl.net: M26950
https://www.asyl.net/rsdb/M26950
Leitsatz:

Nach Art. 2 Abs. 1, 2. Var. des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (BGBl. 1994 II, S. 2645) geht die Verantwortung für einen in Italien anerkannten Flüchtling auf Deutschland über, wenn Deutschland dem Flüchtling gestattet hat, länger als für die Gültigkeitsdauer des italienischen Reiseausweises in Deutschland zu bleiben.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, ausländische Anerkennung, Reiseausweis für Flüchtlinge, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen,
Normen: EATRR Art. 2 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Übergang der Verantwortung nach dem Europäischen Übereinkommen führt dazu, dass ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommt und nicht dauerhaft auf dem Status eines nur geduldeten Ausländers unter Ausschluss der einem anerkannten Flüchtling zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechte verbleibt (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage vom 2. August 2017 - 1 C 2/17 - juris, Rn. 24 im Zusammenhang mit der vom HessVGH vertretenen Auffassung, bei einem Verstoß gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union sei trotz einer dort bereits erfolgten Anerkennung als Flüchtling in Deutschland ein (weiteres) Asylverfahren durchzuführen und der Betroffene ggf. nochmals als Flüchtling anzuerkennen; vgl. auch bereits BVerwG, EuGH-Vorlage vom 27. Juni 2017 - 1 C 26/16 - juris, Rn. 34).

Das Europäische Übereinkommen ist vorliegend anwendbar. Auf den Streit, ob insoweit maßgeblich ist, ob (neben der Bundesrepublik Deutschland) auch der Mitgliedstaat, der den Flüchtlingsstatus zuerkannt hat, diesem Übereinkommen zugestimmt hat (dafür OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. November 2015 - 18 B 387/15 - juris, Rn. 20 = NVwZ-RR 2016, 354-357; dagegen VG Berlin, Urteil vom 30. November 2017 - 23 K 463.17 A - juris, Rn. 19; wohl auch BVerwG, EuGH-Vorlage vom 2. August 2017 - 1 C 2/17 - juris, Rn. 24 (zu Bulgarien, das dem Übereinkommen nicht zugestimmt hat)), kommt es vorliegend nicht an. Italien hat das Europäische Übereinkommen sowohl unterzeichnet als auch ratifiziert (vgl. zum Unterschriften- und Ratifikationsstand (Stand 19. März 2018): www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/107/signatures. [...]

Die Antragstellerin hatte im Zeitraum vom 9. Juli 2013 bis zum 7. Januar 2015 eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, so dass die zeitliche Voraussetzung nach Art. 2 Abs. 1, 1. Var. des Europäischen Übereinkommens für den Übergang der Verantwortung von Italien auf Deutschland nicht erfüllt ist.

Allerdings dürfte die Verantwortung nach Art. 2 Abs. 1, 2. Var. des Europäischen Übereinkommens von Italien auf Deutschland übergegangen sein. Dies ist nach der Vorschrift bereits zu einem früheren Zeitpunkt (als zwei Jahre) der Fall, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, entweder dauernd oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben. Der genannte italienische Reiseausweis für Flüchtlinge war ausweislich seiner S. 1 ("Questo documento scade il" bzw. "Ce document expire le") bis zum 18. August 2013 gültig. Am 9. Juli 2013 stellte die Antragsgegnerin der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aus, die (zunächst) bis zum 8. Juli 2014 gültig war. Damit hat die Bundesrepublik Deutschland als Zweitstaat der Antragstellerin zwar nicht gestattet, dauernd in Deutschland zu bleiben, aber länger als für die Gültigkeitsdauer des italienischen Reiseausweises für Flüchtlinge.

Darüber hinaus gilt die Verantwortung nach Art. 2 Abs. 3 des Europäischen Übereinkommens auch dann als übergegangen, wenn die Wiederaufnahme des Flüchtlings durch den Erststaat nach Art. 4 des Europäischen Übereinkommens nicht mehr beantragt werden kann. Dies ist grundsätzlich sechs Monate nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises für Flüchtlinge der Fall (vgl. BT-Drs. 12/6852, S. 15). [...]