VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Beschluss vom 04.01.2019 - 5 L 535/18.A - asyl.net: M26954
https://www.asyl.net/rsdb/M26954
Leitsatz:

Asylsuchende „flüchtig“, wenn sie die Wohnanlage innerhalb der Überstellungsfrist unangekündigt verlassen, auch ohne Kenntnis des konkreten Überstellungstermins:

"1. Der Begriff "flüchtig" im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO setzt nicht voraus, dass die Nicht­anwesenheit des Antragstellers gerade zum Zweck der Vereitelung eines Überstellungsversuches erfolgt (Anschluss VG Potsdam, Urteil vom 21. April 2017 - 6 K 527/16.A -, juris).

2. Der vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller muss jederzeit innerhalb der Überstellungsfrist mit einer Überstellung rechnen. Verlässt er in einer solchen Situation nicht nur für einige Stunden, sondern für mehrere Tage die Wohnanlage und teilt dies der Ausländerbehörde pflichtwidrig nicht mit, so ist auch ohne Kenntnis eines konkreten Überstellungstermins jedenfalls von einem (bedingten) Vorsatz des Antragstellers auszugehen, eine etwaige Überstellung, die in seiner Abwesenheit erfolgt, zu verhindern."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Abwesenheit,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, AsylG § 47 Abs. 3, AufenthG § 50 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

19 Ob die Nichtanwesenheit des Antragstellers dabei gerade zum Zweck der Vereitelung des Überstellungsversuches erfolgt ist, kann dahinstehen. Denn dies ist nicht zwingend erforderlich. Insoweit schließt sich das Gericht der Rechtsprechung der 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Potsdam an, das zutreffend wie folgt ausgeführt hat (Urteil vom 21. April 2017 - 6 K 527/16.A -, juris Rn. 27):

20 "Zum einen weisen weder die Dublin-III-VO selbst noch die Dublin-DurchführungsVO auf eine bestimmte Vorsatzform im Zusammenhang mit dem "Sich-entziehen" hin oder schließen dieses sogar bei unvertretbaren Umständen aus. Daraus folgt, dass vom Wortlaut nicht nur absichtliche Überstellungsvereitelungen erfasst werden sollen. Zum anderen kann nach systematischer Auslegung nicht angenommen werden, dass es eine Ankündigungspflicht für Überstellungsversuche gibt, mit der Folge, dass ein Sich-Entziehen auch im Fall der Unkenntnis von der Überstellung möglich sein muss. Denn trotz ausführlicher Regelung der Verfahrensgarantien im Abschnitt IV der Dublin-III-VO, die insbesondere die Belehrungspflicht gegenüber dem Asylbewerber über die Modalitäten einer freiwilligen und eigenständigen Ausreise in den zuständigen Mitgliedsstaat enthalten, fehlt eine Mitteilungspflicht hinsichtlich jeglicher Form der unfreiwilligen Ausreise. Daher reicht es aus, wenn die zu überstellende Person in Kenntnis ihrer andauernden Ausreisepflicht Maßnahmen ergreift, die für sie unter Berücksichtigung ihrer Rechte und Pflichten zur (vorübergehenden) Aufenthaltsnahme erkennbar eine Habhaftmachung durch das Bundesamt zum Zwecke der Überstellung jedenfalls für einen gewissen Zeitraum unmöglich machen."

21 Gemessen daran kommt es jedenfalls dann, wenn – wie hier – längere Abwesenheitszeiten vorliegen, für die Annahme eines "Flüchtigseins" auch nicht darauf an, ob der Antragsteller von dem konkreten Überstellungstermin Kenntnis hatte (wie hier: VG Ansbach, Beschluss vom 29. August 2017 - AN 14 E 17.50998 -, juris Rn. 32; a.A. wohl VG Dresden, Urteil vom 12. Juni 2015 - 7 K 2951/14.A -, juris Rn. 25). Denn der Antragsteller war aufgrund des streitgegenständlichen Bescheides vollziehbar ausreisepflichtig und musste innerhalb der Überstellungsfrist jederzeit mit einem Überstellungsversuch rechnen. Verlässt er in einer solchen Situation nicht nur für einige Stunden, sondern für mehrere Tage die Wohnanlage, ohne dies der Ausländerbehörde mitzuteilen, so verstößt er gegen seine Mitwirkungspflichten, wonach er während der Dauer des Asylverfahrens (§ 10 Abs. 1 S. 1 1. Hs. AsylG) bzw. solange die Pflicht gilt, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, für die zuständigen Behörden erreichbar sein muss (§ 47 Abs. 3 AsylG) und jedenfalls dann, wenn er den Bezirk der Ausländerbehörde für mehr als drei Tage verlassen will, nach § 50 Abs. 4 AufenthG gehalten ist, dies der Ausländerbehörde vorher mitzuteilen (vgl. OVG für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23. März 2018 - 1 LA 7/18 -, juris Rn. 16). In einer solchen Konstellation ist auch ohne Kenntnis eines konkreten Überstellungstermins jedenfalls von einem (bedingten) Vorsatz des Antragstellers auszugehen, eine etwaige Überstellung, die in seiner Abwesenheit erfolgt, zu verhindern. Dies gilt umso mehr gegen Ende der Überstellungsfrist oder wenn der Antragsteller die Aufnahmeeinrichtung – wie hier – über den gesamten Zeitraum der Überstellungsfrist immer wieder für mehrere Tage verlässt. [...]