VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 25.10.2018 - B 8 K 17.31584 - asyl.net: M26956
https://www.asyl.net/rsdb/M26956
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen jungen Afghanen wegen Bedrohung durch die Taliban

Der Umstand, dass mehrere Familienmitglieder für die afghanische Regierung und die NATO arbeiteten, führt dazu, dass dem Kläger von den Taliban eine talibanfeindliche Grundeinstellung zugeschrieben wird.

Die Islamische Republik Afghanistan ist nicht in der Lage, Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wie die Taliban zu bieten.

Ob eine inländische Fluchtalternative besteht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Taliban sind jedenfalls in der Lage, landesweit Personen aufzuspüren, zu bedrohen, zu verletzen und zu töten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Militär, NATO, Familienangehörige, Polizei, Sippenhaft, nichtstaatliche Verfolgung, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Maßstäben ist die zur Entscheidung berufene Einzelrichterin ausreichend davon überzeugt, dass sich der Kläger aus Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes aufhält.

Das Gericht hat nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung letztlich keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die Familie des Klägers vor seiner Flucht aus Afghanistan für die amerikanischen Streitkräfte bzw. für die afghanische Regierung tätig war. [...]

Das Gericht kommt im Rahmen der Würdigung der Niederschrift zur Anhörung des Klägers beim Bundesamt, den Schilderungen und Erläuterungen der Asylgründe durch den Kläger in der mündlichen Verhandlung sowie des Gesamteindrucks der Glaubwürdigkeit des Klägers unter Berücksichtigung der angesprochenen Maßstäbe zur Glaubhaftmachung des Verfolgungsschicksals im Asylverfahren zu der Einschätzung, dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung insbesondere die Bedrohungen durch die Taliban sowie den Mord an seinem Bruder detailreich und insgesamt glaubhaft geschildert. Auch entsprachen seine Angaben in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen den Angaben beim Bundesamt. [...]

Im Hinblick darauf, dass das Gericht in Asylverfahren in Bezug auf die entscheidungserheblichen Vorfälle im Herkunftsland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich In tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 - juris = BVerwGE 71, 180). ist das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass der Kläger in das Visier der Taliban geraten ist und auch tatsächlich nicht nur persönlichen Bedrohungen durch die Taliban, sondern Insbesondere mit dem Mord an seinem weiteren Bruder konkreten Übergriffen durch diese ausgesetzt war. Demnach ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Heimatland deshalb verlassen hat, weil ihm lebensbedrohliche Übergriffe seitens der Taliban drohten. [...] Für das Bestehen einer akuten Bedrohungslage gegenüber der klägerischen Familie spricht ferner, dass der Vater sowie die älteren Brüder und wenige Tage später auch der Kläger zeitnah nach der Drohung Afghanistan verlassen haben und sich der Kläger bis zu seiner endgültigen Ausreise versteckt gehalten hat.

b) Nach Überzeugung des Gerichts waren somit im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus Afghanistan sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit durch die Taliban bedroht. Die regierungsfeindlichen Gruppen der Taliban sind nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG. Die islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen nicht in der Lage Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. [...] Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen der Taliban ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. Die größte Bedrohung für die Bürger Afghanistans geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich hierbei meist um Anführer von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet sind. Die Zentralregierung ist häufig nicht in der Lage ihre Schutzverantwortung effektiv wahrzunehmen. [...] Damit konnte der Kläger vorliegend gerade nicht auf die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes im Heimatland verwiesen werden.

c) Ferner ist davon auszugehen, dass die dem Kläger in Afghanistan seitens der Taliban drohende Verfolgung auch an seine (vermeintliche) politische Überzeugung im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpft. [...] Denn die Familie des Klägers war für die afghanische Regierung sowie für die internationalen Streitkräfte tätig und dies wurde den Taliban bekannt. Aus Sicht der Taliban stand er damit der afghanischen Regierung nahe. Da seine Familie zudem das Angebot der Taliban, Ihre Tätigkeiten für die Feinde einzustellen und sich ihnen anzuschließen, nicht annahm, liegt es auf der Hand, dass die Taliban dem Kläger eine regierungsfreundliche und damit zugleich talibanfeindliche Grundeinstellung zuschreiben.

Dieses Ergebnis wird gestützt durch die aktuelle Auskunftslage, wonach Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen in der jüngsten Vergangenheit gezielt von regierungsfreindlichen Kräften angegriffen wurden. [...]

d) Weil der Kläger nach Überzeugung des Gerichts vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist, kommt ihm die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute, weshalb davon auszugehen ist, dass er auch im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan erneut von den Taliban verfolgt werden wird. [...]

Weiterhin kann im Falle des Klägers nicht davon ausgegangen werden, dass ihm interner Schutz im Sinne des § 3e AsylG zur Verfügung steht. [...]

Vom Grundsatz her ist jedenfalls davon auszugehen, dass die Taliban landesweit über ein dichtes Netzwerk verfügen, welches ihnen die nötigen Informationen liefert, um Individuen aufzuspüren, zuzuordnen und einzuschüchtern. So ist nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Dresden vom 14.05.2018 davon auszugehen, dass die Taliban grundsätzlich in der Lage sind, landesweit Personen aufzuspüren und zu bedrohen bzw. zu verletzen oder gar zu töten. Dementsprechend stellt sich im konkreten Einzelfall jeweils die Frage, ob die nichtstaatlichen Akteure - hier also die Taliban - nach wie vor ein Interesse an der Verfolgung einer bestimmten Person haben. Dies hängt nach der Überzeugung des Gerichts im Wesentlichen davon ab, aus welchen Gründen die betreffende Person ins Visier der Taliban geraten ist.

Nach Überzeugung des Gerichts ist bei einer Gesamtwürdigung dieser Umstände das Gefährdungspotential für den Kläger im gesamten Land sehr hoch, weshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass dem Kläger eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht. Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die gesamten Familienmitglieder des Klägers im erwerbsfähigen Alter entweder für die afghanische Regierung oder die internationalen Streitkräfte tätig waren. Dem älteren Bruder, der in einem NATO-Camp in Ghazni gearbeitet hat, kam dabei als auch eine herausgehobene Position zu. Zudem schilderte der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft, dass sein weiterer Bruder als Fahrer für die NATO tätig war und selbst nach Aufgabe dieser Tätigkeit noch einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt war. Er sei in der Folge auf dem Weg von Kabul nach Herat von Talibankämpfern ermordet und damit auch außerhalb seines Herkunftsbezirks von diesen aufgefunden worden. Zwar verfügt Afghanistan nach derzeitiger Auskunftslage über kein zentrales Bevölkerungsregister. Gleichwohl gibt es Mittel und Wege. um Familienmitglieder ausfindig zu machen. Das Dorf bzw. der Bezirk, aus dem jemand stammt, ist der naheliegende Ort, um eine Suche zu starten. Die lokalen Gemeinschaften verfügen über zahlreiche Informationen über die Familien und die Ältesten haben einen guten Überblick (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung v. 29.6.2018, S. 310 m.w.N.; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 47). Auch ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass regierungsfeindliche Kräfte Familienangehörige regierungsnaher bzw. internationaler Kräfte gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angreifen. Insbesondere wurden Verwandte von Regierungsmitarbeitern und Mitgliedern der afghanischen, nationalen Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführungen, Gewalt und Tötungen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sippenhaft durch Taliban von Familienmitgliedern von (angeblichen) Unterstützern der Regierungstruppen, 30.08.2017, S. 2 m.w.N.).

Zwar wird man selbst in Fällen einer Bedrohung durch die Taliban nicht ganz allgemein und generell davon ausgehen können, ein Betroffener könne z. B. in einer Großstadt wie Herat oder Mazar-e Sharif keinen asylrechtlich hinreichenden internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG erlangen. Anders ist dies indes im Einzelfall für exponierte Betroffene wie den Kläger des hiesigen Verfahrens zu sehen: [...] Zwar mag es eine gewisse Wahrscheinlichkeit geben, dass der Kläger in einem anderen Teil Afghanistans nicht aufgespürt werden könnte. Dem Kläger kann indes nicht zugemutet werden, dieses Risiko einzugehen und womöglich doch das gleiche Schicksal wie sein getöteter Bruder zu erleiden, was zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der vorgenannten Umstände des Einzelfalls beachtlich wahrscheinlich ist.

Nach alledem war der Klage im o.g. Umfang stattzugeben und die Beklagte war zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Soweit der streitgegenständliche Bescheid dem entgegensteht, war er aufzuheben. [...]