VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 10.12.2018 - 10 ZB 16.1511 - asyl.net: M26960
https://www.asyl.net/rsdb/M26960
Leitsatz:

1. Versagung der Erteilung einer Aufethaltserlaubnis, da wegen der in der Vergangenheit erfolgten Identitätstäuschung kein strikter Rechtsanspruch darauf besteht, was wegen der Titelerteilungssperre aus § 10 Abs. 3 AufenthG jedoch Voraussetzung wäre.

2. Eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zulässig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Täuschung über Identität, Ausweisung, Titelerteilungssperre, Generalpräventiver Zweck, Schutz von Ehe und Familie, Ausweisungsinteresse, Verjährung, Verjährungsfrist,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 15, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 8 Bst. a, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9,
Auszüge:

[...]

7 Der Kläger formuliert als grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage, "ob nach der neuen Gesetzeslage allein Aspekte der Generalprävention ein Ausweisungsinteresse begründen können". Er ist der Meinung, dass eine ausschließlich generalpräventiv begründete Ausweisung nach dem Wortlaut des ("neuen") § 53 Abs. 1 AufenthG nicht mehr zulässig sei, weil dann keine Gefahr mehr vorliege, die tatbestandliche Voraussetzung jeder Ausweisung sei.

8 Diese Rechtsfrage ist jedoch inzwischen höchstrichterlich durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juli 2018 (1 C 16.17 - juris) geklärt. Hier ist - wobei der Sachverhalt dem des vorliegenden Verfahrens weitgehend entspricht - ausgeführt (Rn. 16-20):

9 "Auch allein generalpräventive Gründe können ein Ausweisungsinteresse begründen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lässt der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG generalpräventive Gründe zu. Diese grundlegende Norm des neuen Ausweisungsrechts verlangt nämlich nicht, dass von dem ordnungsrechtlich auffälligen Ausländer selbst eine Gefahr ausgehen muss. Vielmehr muss dessen weiterer "Aufenthalt" eine Gefährdung bewirken […]. Vom Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann aber auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte
zu begehen […].

10 Der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG unterscheidet sich insoweit ausdrücklich von dem des § 53 Abs. 3 AufenthG, der für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangt, dass das "persönliche Verhalten des Betroffenen" eine schwerwiegende Gefahr darstellt. Insofern findet der in der Gesetzesbegründung ausdrücklich formulierte gesetzgeberische Wille, eine Ausweisungsentscheidung grundsätzlich auch auf generalpräventive Erwägungen stützen zu können (BT-Drs. 18/4097 S. 49), entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts im Gesetzeswortlaut seinen Niederschlag.

11 Entsprechendes gilt für die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Diese verlangt das Fehlen eines Ausweisungsinteresses, ohne dieses auf Tatbestände einzugrenzen, bei denen die Gefahr vom Ausländer selbst ausgehen muss. Der Wortlaut des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unterscheidet sich insoweit von anderen Tatbeständen, die das Fehlen einer vom Ausländer ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zur Erteilungsvoraussetzung erheben. […]

12 Ist der Wortlaut des § 53 Abs. 1 und des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG offen und stehen Gesichtspunkte der systematischen Auslegung - wie hier - jedenfalls nicht entgegen, kommt dem gesetzgeberischen Willen erhebliche Bedeutung für die Gesetzesauslegung zu. Dieser wird aus der Gesetzesbegründung der Bundesregierung im Gesetzentwurf vom 25. Februar 2015 (BT-Drs. 18/4097 S. 49) hinreichend deutlich, wenn ausgeführt wird:

13 "Die Ausweisungsentscheidung kann grundsätzlich auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden, wenn nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls das Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. Dies gilt allerdings nicht für die in § 53 Absatz 3 genannten Personengruppen. Hier ist die Ausweisung nur zulässig, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist."

14 Des Weiteren ergibt sich auch aus dem Gesetz selbst, dass es generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will. Denn gerade das im vorliegenden Fall einschlägige, nach der Einstufung des Gesetzgebers schwer wiegende Ausweisungsinteresse wegen Falschangaben zur Verhinderung einer Abschiebung, das § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG normiert, dient typischerweise generalpräventiven Interessen. Falschangaben - wie hier in Gestalt der Identitätstäuschung - bergen nach Entdeckung in aller Regel nicht mehr die Gefahr der Wiederholung durch den betreffenden Ausländer. Dessen Identität ist nach Aufdeckung der Täuschung in aller Regel geklärt. Dieses Ausweisungsinteresse dient daher nicht - jedenfalls nicht vorrangig - spezialpräventiven Zwecken, sondern zielt maßgeblich darauf ab, verhaltenslenkend auf andere Ausländer einzuwirken, indem ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile im Falle eines pflichtwidrigen Verhaltens aufgezeigt werden."

15 Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur dann nicht mehr entgegen, wenn es nicht mehr aktuell, also zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung nicht mehr vorhanden ist. Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bilden bei abgeurteilten Straftaten die Fristen für ein Verwertungsverbot nach § 51 BZRG in jedem Fall die Obergrenze. Für Ausweisungsinteressen, die an ein strafbares Verhalten anknüpfen, die jedoch nicht abgeurteilt wurden, stellen die strafrechtlichen Verjährungsfristen der §§ 78 ff. StGB einen geeigneten Rahmen zur Konkretisierung dar, wobei die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB eine untere Grenze bildet und sich die obere Grenze regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 StGB orientiert. Bei Identitätstäuschungen (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) beträgt die Verjährungsfrist fünf bzw. zehn Jahre und beginnt mit der Offenbarung der wahren Identität. Die Aktualität des Ausweisungsinteresses dauert bei einer Identitätstäuschung bis in den oberen Bereich dieses Fristenregimes fort, denn es besteht ein hohes öffentliches Interesse an der Verhinderung von Identitätstäuschungen im asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren, dem durch wirksame verhaltenslenkende Maßnahmen Rechnung zu tragen ist (BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16.17 - juris Rn. 22-24). [...]