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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 25.04.2018 - B 8 SO 20/16 R - asyl.net: M26975
https://www.asyl.net/rsdb/M26975
Leitsatz:

Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt zur Erwerbsminderungsrente während eines Auslandsaufenthalts:

1. In Deutschland lebende Drittstaatsangehörige, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sind, haben nach einem mehr als vier Wochen ununterbrochen andauernden Auslandsaufenthalt keinen Anspruch auf Gewährung eines Regelsatzes als Hilfe zum Lebensunterhalt. Aufgrund von § 23 Abs. 1 S. 4 SGB XII darf vom Erfordernis des tatsächlichen Aufenthalts im Inland keine Ausnahme gemacht werden.

https://www.juris.de/r3/?docId=KSRE144900208&docFormat=xsl&oi=TdXG6xy7YG&docPart=L&docAnchor=rd_21&sourceP=%7B%22source%22:%22SameDoc%22%7D

2. Auch Art. 1 EFA setzt einen tatsächlichen Inlandsaufenthalt ("in irgendeinem Teil seines Gebietes") voraus.https://www.juris.de/r3/?docId=KSRE144900208&docFormat=xsl&oi=TdXG6xy7YG&docPart=L&docAnchor=rd_26&sourceP=%7B%22source%22:%22SameDoc%22%7D

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialleistungen, Auslandsaufenthalt, türkische Staatsangehörige, tatsächlicher Aufenthalt, gewöhnlicher Aufenthalt, SGB XII, Erwerbsminderung, Erwerbsfähigkeit, erwerbsfähig, Hilfe zum Lebensunterhalt,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 1 S. 4, EFA Art. 1
Auszüge:

[...]

12 [...] Die Klägerin hat ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit nach einem mehr als vier Wochen ununterbrochen andauernden Auslandsaufenthalt keinen Anspruch auf Gewährung eines anteiligen Regelsatzes als Hilfe zum Lebensunterhalt. [...]

17 Der Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel wird bei Ausländern damit an den tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet geknüpft. Der Begriff des "tatsächlichen Aufenthalts" ist grundsätzlich im Sinne einer körperlichen (physischen) Anwesenheit zu verstehen (vgl. Schlette in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand März 2018, K § 23 RdNr 7; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 23 RdNr 34; Decker in Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 23 SGB XII RdNr 32, Stand Juli 2008; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl. 2015, § 23 RdNr 7 und § 98 RdNr 13; Söhngen in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 98 RdNr 22). Für deutsche Staatsangehörige existiert eine entsprechende Regelung zwar nicht, allerdings sieht das SGB XII infolge der Anknüpfung der Hilfezuständigkeit an einen tatsächlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich eines Sozialhilfeträgers (s oben § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) auch bei nur vorübergehenden Auslandsaufenthalten (etwa Urlaubsreisen) im Grundsatz keine Sozialhilfegewährung vor. Das BVerwG hat für die identische Rechtslage nach dem BSHG hierin keine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke gesehen, sondern eine Folge des Territorialitätsprinzips, das vom Gesetzgeber im Falle des § 119 BSHG (heute § 24 SGB XII) durchbrochen werde, im Übrigen aber nach der bestehenden Rechtslage hinzunehmen sei (BVerwG Urteil vom 22.12.1998 - 5 C 21/97 - Buchholz 436.0 § 97 BSHG Nr. 10). Fehle bei Auslandsreisen, die den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unberührt ließen und deshalb von der Auslandssozialhilfe nicht erfasst würden, ein zuständiger Sozialhilfeträger, habe dies zur Folge, dass einem Hilfebedürftigen eine sozialhilferechtliche Versorgung für einen im Ausland entstehenden Bedarf nicht zustehe (insoweit kommen Leistungen nach § 5 des Gesetzes über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (Konsulargesetz) in Betracht). Das bedeute nicht, dass ein Hilfeempfänger keine Urlaubsreisen ins Ausland machen dürfe, er müsse allerdings seinen Bedarf in dieser Zeit selbst decken bzw von anderen decken lassen (BVerwG, a.a.O., Juris RdNr 9).

18 Das BVerwG hat in dieser Entscheidung bezüglich des tatsächlichen Aufenthalts jedoch zu Recht betont, dass eine durch den tatsächlichen Aufenthalt eines Hilfeempfängers begründete örtliche Zuständigkeit eines Trägers der Sozialhilfe nicht schon bei jeder vorübergehenden Ortsabwesenheit des Hilfeempfängers ende; vielmehr ließen kurzfristige Abwesenheiten während des Bewilligungszeitraums von regelmäßig einem Monat die Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers unberührt (ebenso Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand März 2018, K § 98 SGB XII RdNr 28; Schoch in LPK-SGB XII, 10. Aufl. 2015, § 98 RdNr 14; Söhngen in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 98 RdNr 26; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII 19. Aufl. 2015, § 98 RdNr 15; zweifelnd Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 98 RdNr 8 f.). Ein solches Verständnis ergibt sich aus Sinn und Zweck des § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, der durch das Abstellen auf den tatsächlichen Aufenthalt die Zuständigkeit des ortsnahen Sozialhilfeträgers anordnet, um im Interesse des Hilfesuchenden eine schnelle und effektive Beseitigung der gegenwärtigen Notlage zu ermöglichen (vgl. bereits BVerwGE 79, 46, 53). Der "ortsnahe" ist schneller als der "ortsferne" Sozialhilfeträger in der Lage, die erforderlichen Ermittlungen, insbesondere zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Hilfesuchenden, vorzunehmen (Effektivität der Sozialhilfe). Der erkennende Senat schließt sich deshalb dieser Auffassung an, allerdings mit der Maßgabe, dass kurzfristige Abwesenheiten (nur) bis zu vier Wochen unschädlich sind. Auslandsaufenthalte von Empfängern von Leistungen zum Lebensunterhalt werden regelmäßig Urlaubszwecken dienen. Das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) sieht als gesetzliche Mindesturlaubsdauer (§ 3 BUrlG: 24 Werktage) einen Zeitraum von vier Wochen vor. Es ist deshalb sachgerecht, eine an diesen Zeitrahmen angelehnte Unterbrechung des tatsächlichen Aufenthalt hinzunehmen, in der Leistungen weiterzuzahlen sind (vgl. zu diesem Gedanken BTDrucks. 18/9984, S 92).

19 Ein solches Verständnis muss auch bei der Auslegung des tatsächlichen Aufenthalts i.S. von § 23 SGB XII zugrunde gelegt werden, weil für eine funktionsdifferente Auslegung kein Raum ist (ablehnend Schlette, aaO, § 23 RdNr 7, wonach ein ununterbrochener Aufenthalt erforderlich sei; auch nur kurzzeitige, vorübergehende Aufenthalte im Heimatland oder in Drittstaaten führten zum sofortigen Erlöschen jeglicher Leistungsberechtigung). Denn soweit Ausländer einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben (sei es eingeschränkt nach § 23 Abs. 1 Satz 1 oder ohne Einschränkung im Hinblick auf ein Daueraufenthaltsrecht (dazu unten)), sind sie Deutschen gleichgestellt. Ein erkennbarer Grund, den Ausländer dennoch anders zu behandeln, besteht nicht. [...]

21 § 23 Abs. 1 Satz 4 SGB XII hebt bei Vorliegen seiner Voraussetzungen aber nicht das Erfordernis eines tatsächlichen Aufenthalts auf. Soweit dort von den "Einschränkungen nach Satz 1" die Rede ist, ist - wie das LSG zu Recht ausführt - der Leistungsumfang, nicht aber ein Verzicht auf den tatsächlichen Aufenthalt gemeint. Liegen die Voraussetzungen von Satz 4 nicht vor, hat der Ausländer mit tatsächlichem Aufenthalt im Inland nur Anspruch auf eine "Grundversorgung" (Wahrendorf, a.a.O., RdNr 31) im Sinne einer Beschränkung auf die in Abs. 1 Satz 1 genannten Leistungen. [...]

23 Auch der Zweck der Sozialhilfe spricht für eine solche Auslegung. Staatliche "Fürsorge" kann ihre Aufgabe, das Existenzminimum der im Inland lebenden Menschen sicherzustellen, nur erfüllen, wenn sich die Leistungsberechtigten tatsächlich im Inland aufhalten. Bestreiten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland ihren Lebensunterhalt in erheblichem zeitlichen Umfang im Ausland, so können staatliche Fürsorgeleistungen ihren Sicherstellungsauftrag im Inland nicht mehr erfüllen. Dieses Prinzip darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass die für das Inland gedachten existenzsichernden Leistungen langfristig auch bei Auslandsaufenthalten gewährt werden (vgl. dazu nur BT-Drucks. 18/9984 S 92 zur Einfügung des § 41a SGB XII; s auch BSG Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 5/16 R - RdNr 24 für BSGE und SozR 4 vorgesehen). Dies gilt für deutsche wie für ausländische Staatsangehörige gleichermaßen.

24 Aus anderen Rechtsvorschriften (§ 23 Abs. 1 Satz 5 SGB XII i.d.F. des Gesetzes vom 27.12.2003, BGBl I 3022) folgen ebenso keine weitergehenden Ansprüche der Klägerin. Insbesondere kann sie sich nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 EFA vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, 564) berufen. Nach Art 1 dieses Abkommens, das ua die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei unterzeichnet haben (BGBl II 1958, 18 und BGBl II 1977, 255), ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.

25 Zwar ist das EFA als unmittelbar geltendes Bundesrecht anwendbar (vgl. z.B. BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 21, RdNr 24) und sowohl der persönliche (Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats) als auch der sachliche Anwendungsbereich ("Fürsorge" i.S. des Art 1 EFA, vgl. Art 2 Abs. a Buchst i EFA; kein Vorbehalt für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII, vgl. Bekanntmachung vom 31.1.2012, BGBl II 144, i.d.F. der Bekanntmachung vom 3.4.2012, BGBl II 470, vgl. hierzu z.B. BSG Urteil vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 46, RdNr 17 ff. und Greiser in jurisPK-SGB XII, Anhang zu § 23 RdNr 91 ff, Stand: 19.7.2016) gegeben.

26 Art 1 EFA setzt aber einen tatsächlichen Inlandsaufenthalt ("irgendeinem Teil seines Gebietes") voraus (ebenso z.B. Schlette, a.a.O., K § 23 RdNr 26, und hierzu neigend z.B. BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 21, RdNr 36; aA wohl Greiser in jurisPK-SGB XII, Anhang zu § 23 RdNr 102 f, Stand: 19.7.2016). Das EFA unterscheidet zwischen dem tatsächlichen Aufenthalt für das sozialrechtliche Gleichbehandlungsgebot (Art 1 EFA) und dem gewöhnlichen Aufenthalt für den Ausweisungsschutz bei Inanspruchnahme von Leistungen nach Art 6 EFA (vgl. z.B. Denkschrift zum EFA, BT-Drucks. 2/1882, 22 f; vgl. auch BT-Drucks. 2/2202 S 1). Während des streitigen Auslandsaufenthalts der Klägerin bestand kein tatsächlicher Aufenthalt im Bundesgebiet; insoweit ist jede kurzfristige Ortsabwesenheit beachtlich. [...]