VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 19.12.2018 - 6 A 4443/18 - asyl.net: M26981
https://www.asyl.net/rsdb/M26981
Leitsatz:

1. Alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, welche nicht auf den Schutz eines Familienverbandes zurück­greifen können, bilden im Irak eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Nr. 4 AsylG.

2. Eine irakische Frau, die gegen den Willen ihrer Herkunftsfamilie heiratet oder sich mit der Anschuldigung konfrontiert sieht, Ehebruch begangen zu haben, muss in Abhängigkeit von ihrer familiären Situation sowie ihrem gesellschaftlichen Stand fürchten, Opfer gewaltsamer Übergriffe bis hin zum sogenannten "Ehrenmord" zu werden, d.h. einer rechtswidrigen Tötung durch Familienangehörige oder nahestehende Dritte "zur Wieder­herstellung der Familienehre".

3. Von Ehrverbrechen bedrohten Frauen steht auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion im Regelfall kein effektiver polizeilicher oder gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Frauen, Irak, Kurden, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, soziale Gruppe, Verfolgung durch Dritte, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, alleinstehende Frauen, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3b, AsylG § 3b Abs. 4, § 3a Abs. 3, AsylG § 3a, AsylG § 3c, AsylG § 3e Abs. 1, AsylG § 3d, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3b Abs. 4 b, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

32 Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. Februar 2018 (Stand: Dezember 2017) vermerkt in Bezug auf die Lage der Frauen im Irak (S. 13 f.), die in der Verfassung festgeschriebene Gleichstellung der Geschlechter und das verfassungsrechtlich verankerte Verbot jeder Art von Diskriminierung (Art. 14 und 20 der irakischen Verfassung) fänden in niederrangigen Rechtsnormen keine Entsprechung und seien in der Praxis durch erhebliche Defizite gekennzeichnet. Die Stellung der Frau habe sich im Vergleich zur Zeit des Saddam- Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die geschätzte Erwerbsquote unter Frauen habe im Jahr 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17% gelegen. Die prekäre Sicherheitslage und wachsende fundamentalistische Tendenzen in Teilen der irakischen Gesellschaft hätten negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak würden islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen würden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken.

33 Middle East Online hebt in einem Artikel aus Dezember 2011 hervor, nach Angaben der irakischen Parlamentsabgeordneten Safia al-Souhail sei in statistischer Hinsicht eine von fünf irakischen Frauen körperlicher oder psychischer Gewalt ausgesetzt, die oft von Familienangehörigen ausgehe (Middle East Online, Hidden victims of Iraq conflict: Women expect little change for better, 21. Dezember 2011).

34 Human Rights Watch berichtete im Februar 2014, die Rechten der Frauen im Irak hätten sich seit dem Golfkrieg 1991 dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend, hätten frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sähen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden, was ihre fortwährende Viktimisierung im häuslichen Bereich konsolidiere. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit seien junge Frauen. Sie würden verwitwet, versklavt, zur frühen Heirat gezwungen, häuslicher Gewalt ausgesetzt oder sexuell belästigt, sobald sie das Haus verließen. Letzteres sei ein neues Phänomen im Irak (Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq’s criminal justice system, Februar 2014).

35 Nach den Förderungsrichtlinien für die Bewertung der internationalen Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden aus dem Irak des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom 31. Mai 2012 ist die Gewalt gegen Frauen und Mädchen seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen seien im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. Frauen ohne männliche Unterstützung, einschließlich Witwen, Frauen, deren Ehemänner vermisst würden oder inhaftiert seien, und geschiedenen Frauen seien am meisten betroffen. Traditionell würden sie nach dem Verlust ihrer Ehemänner mit ihren Familien oder ihren Schwiegereltern mitgehen. Allerdings seien diese Verwandten oft wegen ihrer eigenen wirtschaftlichen Not nicht in der Lage, eine beträchtliche Unterstützung zu bieten (UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Iraq, 31.05.2012, S. 34 f.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 – 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 60).

36 Einer Schnellrecherche der Länderanalyse der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) zufolge gelten allein lebende Frauen zu den verletzlichsten Personengruppen des Landes. Ohne Unterstützung und Schutz von Verwandten seien sie besonders anfällig für Belästigungen, Entführungen oder sexuelle Übergriffe. Viele seien zur Sicherung ihres Lebensunterhalts gezwungen, sich zu prostituieren, Ehen mit älteren Männern oder Zeitehen ("pleasure marriages") einzugehen (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 15. Januar 2015 zu Irak: Zwangsheirat, S. 2, 8).

37 Auch Unami Human Rights stellt in einem Bericht aus Juni/Juli 2014 fest, einzelne Frauen und weibliche Haushaltsvorstände seien besonders anfällig für Drohungen von sexuellen und anderen Formen der physischen Gewalt, Tötungen und den beeinträchtigten Zugang zu ohnehin bereits begrenzter humanitärer Hilfe (Unami Rights Report on the Protection of Civilians in the Non International Armed Conflict in Iraq, 5 June - 5 July 2014, S. 21; VG Gelsenkirchen, a.a.O., Rn. 60).

38 Des Weiteren hebt das Britische Innenministerium in seinem Länderbericht 2015 in Bezug auf den Irak hervor, dass einzelne Frauen und Kinder, die in den Irak zurückkehrten, aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters besonders anfällig seien und wahrscheinlich die Schwelle für die Zuerkennung internationalen Schutzes erreicht sein dürfte, sofern sie keine Unterstützungsnetze hätten oder sich nicht finanziell unterstützen könnten (UK Home Office, Country Information and Guidance. Iraq: humanitarian situation in Baghdad, the south (including Babil) and the Kurdistan Region of Iraq, Version 1.0., Juni 2015, S. 7, Rn. 2.4.8).

39 Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in einer Schnellrecherche vom 5. Februar 2018 aus (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 5. Februar 2018 zum Irak: Frauenhäuser in Kirkuk, S. 3 f.):

40 "Laut dem Geneva International Centre for Justice (2015) werden unverheiratete Frauen im Irak gesellschaftlich stigmatisiert. Ein Bericht von Care (April 2015) deutet darauf hin, dass die vorherrschenden sozialen Normen Frauen daran hindern, ohne einen Mann zu leben. Insbesondere weiblich geführte Haushalte riskieren Gewalt ausgesetzt zu sein. Zu den schutzbedürftigsten Gruppen im Irak zählt Care unter anderem insbesondere schwangere und/oder stillende, ledige und verwitwete Frauen. Auch in einem Bericht einer Fact-Finding-Mission des Danish Refugee Council und des Danish  Immigration Service (Januar 2016) wird hervorgehoben, dass ledige Frauen sowie weiblich geführte Haushalte unter den intern vertriebenen Menschen (IDPs) "besonders verletzlich" sind. Laut der Koalition des CEDAW-Schattenberichtes (2014) ist insbesondere die "Kategorie der Witwen und der geschiedenen Frauen" mit großen sozialen Herausforderungen und diskriminierenden Traditionen konfrontiert. Diese Frauen seien oft dem Risiko der sexuellen Ausbeutung, Prostitution und Ehen auf Zeit ausgesetzt. Haushalte, die von Frauen geführt werden, leben aufgrund des tiefen Einkommens in sehr schlechten finanziellen Verhältnissen."

41 […] Gemäss IWHR et al. (August 2015) sind irakische Frauen nach einer Scheidung oft von männlichen Verwandten abhängig. Insbesondere geschiedene Frauen ohne Bildung oder Arbeitserfahrung, vor allem in ländlichen Regionen, seien mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Aus Angst vor gewaltsamen Repressalien, sozialer Stigmatisierung und finanzieller Isolierung bei einer Trennung entscheiden sich viele Frauen dafür, eine Beziehung mit einem gewalttätigen Partner aufrechtzuerhalten."

42 In Bezug auf die gesetzlichen Grundlagen der Ehescheidung im Irak führt die Schweizerische Flüchtlingshilfe in einer Länderanalyse aus August 2011 aus, in den meisten muslimischen Ländern würden zivilrechtliche Angelegenheiten betreffend Heirat, Sorgerecht und Erbschaften gemäß dem islamischen Scharia-Recht geregelt. Im Irak ersetze hingegen das "Personal Status Law" (Zivilstandsgesetz) aus dem Jahr 1959 die Schariagerichte und gelte als liberal bezüglich der Rechte der Frauen. Kinderheirat und Zwangsheirat seien verboten, Polygamie sei eingeschränkt. Die Rechte der Frauen bei einer Scheidung seien erweitert worden, ihre Möglichkeiten bezüglich Erbschaften verbessert. Gemäß Art. 57 des Zivilstandsgesetzes habe die Frau das Sorgerecht über die Kinder, bis diese zehn Jahre alt seien. In dieser Zeit müsse der Vater Unterhaltsgeld für die Kinder bezahlen. Das Sorgerecht der Frau könne vor Gericht bis zum 15. Lebensjahr verlängert werden, danach dürfe das Kind entscheiden, wer das Sorgerecht haben solle (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse, Irak: Scheidung in KRG-Region, 11.08.2011, S. 1 f.). Seit dem Sturz der Baath-Regierung habe sich jedoch die massive Kritik religiöser Führer weiter verfestigt, welche in der Gesetzeslage einen Widerspruch zur islamischen Rechtsprechung sowie zu Art. 41 der neuen irakischen Verfassung sähen ("Iraqis are free in their commitment to their personal status according to their religions, sects, beliefs, or choices and that shall be regulated by law"; SFH, a.a.O., S. 1). Nach den Angaben einer Kontaktperson vor Ort sprächen die irakischen Gerichte zudem oft den Ehemännern das Sorgerecht zu, da die Frauen oftmals nicht die wirtschaftlichen Möglichkeiten besäßen, für die Familie aufzukommen (SFH, a.a.O., S. 2).

43 Hinsichtlich der Lage alleinstehender Frauen in der kurdischen Gesellschaft erklärt ein gemeinsamer Bericht des Norwegian Country of Origin Information Center (LANDINFO) und des Danish Immigration Service (DIS) aus November 2018, die Lage geschiedener Frauen sei weiterhin hart und stigmatisierend. Eine gebildete Frau mit ihrem eigenen Einkommen sei in der Lage, in einer Stadt alleine zu leben, sofern sie keinen Ehrenkonflikt mit ihrer Familie habe. Allerdings habe die sich verschlechternde finanzielle Situation im Irak in Kombination mit den allgemein bestehenden sozialen Einschränkungen für Frauen dahingehend ausgewirkt, dass sich die Fähigkeit von Frauen, alleinverantwortlich zu leben, reduziert habe. Eine Frau, die sich dauerhaft außerhalb einer Stadt aufhalte, so der Bericht im Weiteren, sei nicht in der Lage, alleine zu leben (DIS/LANDINFO, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, November 2018, S. 13). Alleinstehende Frauen, die in den Irak zurückkehrten, seien massiven Schwierigkeiten ausgesetzt, sofern sie kein (familiäres) Netzwerk besäßen, das sie unterstütze. Es gäbe keine Plätze in Notunterkünften, da diese an einem Mangel öffentlicher Finanzmittel litten. Eine alleinstehende Frau, die sich mit ihrer Familie überworfen habe und sich nicht selbst versorgen könne, sei zwingend darauf angewiesen, sich mit ihrer Familie zu versöhnen (DIS/LANDINFO, a.a.O., S. 21).

44 Es steht überdies zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass die Klägerin zu 1. unter die vorgenannte besondere soziale Gruppe fällt, weil sie keine belastbaren Bindungen mehr zu ihrer Herkunftsfamilie besitzt, sich dauerhaft von ihrem Ehemann getrennt hat und die gemeinsamen Kinder alleine erzieht. Sie hat in der mündlichen Verhandlung nicht nur glaubhaft geschildert, dass sie sich mit ihrer Herkunftsfamilie im Irak wegen ihrer Partnerwahl überworfen habe, nunmehr seit Juli 2017 von ihrem Ehemann getrennt lebe und sich zu ihrem Schutz in einem Frauenhaus aufhalte. Des Weiteren erschien sie zur mündlichen Verhandlung auch in Begleitung zweier Mitarbeiterinnen dieser Einrichtung. Überdies hat ihr Prozessbevollmächtigter unter Nennung der einschlägigen Aktenzeichen auf mehrere bei der Staatsanwalt - schaft A-Stadt anhängige Ermittlungsverfahren gegen den Ehemann der Klägerin zu 1. verwiesen, die u.a. wegen der Verletzung des im Beschluss des Amtsgerichts A-Stadt angeordneten Kontaktverbots laufen.

45 Das Gericht ist darüber hinaus aufgrund der glaubhaften und substantiierten Ausführungen der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung sowie auf Basis der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass sie sich im Falle ihrer Rückkehr in den Irak als alleinerziehende Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von nichtstaatlicher Seite geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 5, § 3a Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 AsylG ausgesetzt sehen würde. Ihr droht im Falle ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, von ihrem Ehemann bzw. Angehörigen ihrer Familie wegen einer vermeintlichen Verletzung der Familienehre massiv körperlich misshandelt, unter Umständen auch getötet zu werden.

46 Eine irakische Frau, die gegen den Willen ihrer Herkunftsfamilie heiratet oder sich mit der Anschuldigung konfrontiert sieht, Ehebruch begangen zu haben, muss nach der gegenwärtigen Erkenntnismittellage in Abhängigkeit von ihrer familiären Situation sowie ihrem gesellschaftlichen Stand fürchten, Opfer gewaltsamer Übergriffe bis hin zum sogenannten "Ehrenmord" zu werden, d.h. einer rechtswidrigen Tötung durch Familienangehörige oder nahestehende Dritte "zur Wiederherstellung der Familienehre".

47 Nach dem aktuellen Länderbericht Irak des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) für das Jahr 2017 bleiben Ehrenverbrechen im ganzen Irak weiterhin ein ernstzunehmendes Problem, das sich derzeit noch zunehmend verschärft. Die Gründe hierfür seien u.a. die schwachen Strafverfolgungsbehörden, die paramilitärischen religiösen Milizen, die stark an Macht gewonnen hätten sowie die zunehmende Verbreitung besonders strenger und konservativer religiöser Werte. Ehrenverbrechen würden in allen Gegenden des Irak und bei allen ethnischen und religiösen Gruppen begangen, wobei es schwer sei, das wahre Ausmaß von Ehrenverbrechen zu erfassen, da viele Fälle nicht angezeigt würden. Ehrenmorde würden meist begangen, nachdem eine Frau eines der folgenden Dinge getan habe oder dessen auch nur verdächtigt werde: eine Freundschaft oder voreheliche Beziehung mit einem Mann einzugehen, sich zu weigern, einen von der Familie ausgewählten Mann zu heiraten, gegen den Willen der Familie zu heiraten, Ehebruch, oder das Opfer einer Vergewaltigung oder Entführung zu sein. Solche Verletzungen der Ehre würden in der irakischen Gesellschaft als unverzeihlich angesehen und könnten aus Sicht dieser häufig nur getilgt werden, indem man die Frau töte. Per Definition würden Ehrenmorde von einem Familienmitglied ausgeführt, es könne aber auch sein, dass die Großfamilie, der Clan, die Gemeinde, der Stamm, eine bewaffnete Gruppe oder anderen externe Akteure Druck auf die Familie ausübten, ein Familienmitglied zu töten, das vermeintliche Schande über die Familie gebracht habe (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24.08.2017, S. 138 f.).

48 Der gemeinsame Bericht des DIS/LANDINFO aus November 2018 führt hinsichtlich der Lage in der kurdischen Autonomieregion aus, unter den Jugendlichen finde ein Umdenken bezüglich der Wahl von Lebenspartnern statt. Zum einen sei es üblicher als früher, dass Jugendliche ihren eigenen Partner wählten, insbesondere in den Städten und bei gebildeten Familien. Zum anderen würden sich europäische Hochzeitstraditionen unter jungen Menschen zunehmender Beliebtheit erfreuen. Allerdings bemesse sich die Frage, ob diese Veränderungen akzeptiert würden, sehr nach der jeweiligen Herkunftsregion. In ländlichen Gebieten würden sich alte Traditionen hartnäckig halten. In einigen Stämmen gelte es als schweres Verbrechen, jemanden außerhalb des eigenen Stammes zu heiraten (DIS/LANDINFO, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, November 2018, S. 13). In den großen Städten Erbil und Dohuk herrschten weiterhin konservative Vorstellungen in Bezug auf die Rolle der Frau. Ehrenverbrechen trügen sich hier häufiger zu und würden oftmals von Personen begangen, die aus Stammesregionen in die Stadt gezogen seien. In der Stadt Sulaimaniyya seien Ehrenverbrechen seltener; sie würden vielmehr vorwiegend in den Außenbereichen der Stadt und in den umgrenzenden kleineren Ortschaften begangen. Städte, in denen es zu Ehrenverbrechen gekommen sei, seien nach Auskunft örtlicher Kontaktpersonen Ranya, Qaladze, Pesdar, Chamchamal, Kalar und Kirfri. Gerade die Stadt Ranya gilt nach Auskunft mehrerer örtlicher Kontaktpersonen als besonders konservativ (DIS/LANDINFO, a.a.O., S. 12). Speziell in Ranya sei zudem das Phänomen verbreitet, dass eine Frau, deren Herkunftsfamilie ihre Partnerwahl nicht akzeptiere, mit ihrem Ehemann in einen anderen Teil des Landes flüchte, um sich ggf. nach einigen Jahren wieder mit ihrer Familie zu versöhnen (DIS/LANDINFO, a.a.O., S. 21).

49 Das Deutsche Orient Institut (DOI) führt in Bezug auf die Verbreitung von Ehrenverbrechen in der kurdischen Autonomieregion in einer Stellungnahme aus Mai 2017 überdies aus (DOI, Stellungnahme vom 3. Mai 2017 gegenüber dem Verwaltungsgericht Wiesbaden, – Auskunft zum Beschluss 13 K 8604/16, S. 2 f.):

50 "Die Bevölkerung des kurdischen Tells des Irak hat nach wie vor einen relativ hohen Grad an tribalen, patriarchalen Strukturen. Dies ist tendenziell vermehrt in ländlichen Gebieten der Fall. Da ein großer Teil der mittlerweile in den urbanen Zentren der Region lebenden Menschen allerdings erst im Zuge der seit einigen Jahrzehnten anhaltenden Urbanisierung in die Städte zog, sind auch dort solche Beziehungen noch immer relevant. Somit existiert nach wie vor ein Normenkatalog, der vom kodifizierten irakischen (Straf)Recht abweicht. Letzteres stuft das Töten im Zusammenhang mit der Familienehre explizit als Mord ein. Gleichsam kommt es selten zu Verurteilungen und wenn sind nur geringe Strafen zu erwarten.

51 In diesen wie bereits erwähnt patriarchal strukturierten Beziehungen besteht ein ausgeprägtes Ehrverständnis. Dieses hat die Ehre der Familie — bzw. erweitert auch die des Clans oder Stammes — zum Gegenstand. Die Wahrung oder der Verlust der Familienehre ist an das Einhalten und Befolgen sozialer Traditionen und Normen gebunden. Besonders weibliche Familienmitglieder sind hiervon betroffen, denn ihr Verhalten bedingt die Familienehre direkt. Männer oder Jungen werden in der Regel nur im Falle homosexueller Kontakte bestraft. Ein entscheidender Teil dieses Ehrverständnisses sowie dessen, was solche Normen und Traditionen beinhalten, ist das Sexualleben der weiblichen Familienmitglieder. Jedweder Fall von vor- oder außerehelichen sexuellen Verhältnissen, inklusive Vergewaltigungen, wird als Bedrohung der Familienehre gesehen. Weitere Berichte führen zudem Heiraten ohne Zustimmung der Familie, das Abweichen von Kleidungsvorschriften oder Kontakt zu Männern außerhalb der eigenen Familie als Faktoren auf.

52 Diese Familienehre zu wahren, obliegt indes den männlichen Familienmitgliedern. Sollten sie also von (als solchem wahrgenommenen) "Fehlverhalten" erfahren, ist es dem Ehrverständnis folgend ihre Aufgabe, einzugreifen. Für die weiblichen Familienmitglieder hat dies oftmals körperliche Bestrafung bis hin zu "Ehrenmorden" zur Folge. Im Falle von Vergewaltigungen kann die Frau auch gezwungen werden, den Täter zu heiraten. Des Weiteren folgt oftmals eine soziale Brandmarkung, die das soziale Leben sowie etwaige berufliche Perspektiven der Frau enorm einschränkt.

53 Die offizielle Zahl der "Ehrenmorde" liegt in der Regel zwischen 50 und 60 im Jahr. Allerdings stimmen Experten überein, dass die Dunkelziffer um einiges höher liegen dürfte. Denn nur wenn Vorfälle offiziell gemeldet werden, erscheinen sie in der Statistik. Gleichsam bedingt jedoch die bereits angesprochene Parallelstruktur des Clans, dass dies nicht geschieht."

54 In einem im Jahr 2012 veröffentlichten Studienbericht stellt das Staatssekretariat für Migration der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Staatssekretariat für Migration, Report on Joint Finnish-Swiss Fact- Finding Mission to Amman and the Kurdish Regional Government (KRG) Area, May 10-22, 2011, 1. Februar 2012) zudem fest, nach Auskunft der örtlichen Nichtregierungsorganisation Asuda for Combating Violence against Women seien Ehrenmorde heutzutage in der kurdischen Autonomieregion nicht (mehr) üblich, würden jedoch weiterhin geschehen, im Vergleich zum restlichen Irak sogar überdurchschnittlich oft (Staatssekretariat für Migration, a.a.O., S. 37). Nach Schätzung der Nichtregierungsorganisation WADI seien seit dem Jahr 1991 ca. 10.000 Frauen Opfer von Ehrenmorden oder Selbstverbrennungen geworden. Im Vergleich zu den 1990er Jahren seien die Todeszahlen zurückgegangen, insbesondere in Städten. Moderne Kommunikationsformen hätten jedoch neue Risiken geschaffen, da einige Frauen getötet worden seien, nachdem sie über Mobiltelefone Kontakt zu Männern aufgenommen hätten (Staatssekretariat für Migration, a.a.O., S. 41; siehe ferner: Artikel des Independent vom 16. Mai 2008, "How picture phones have fuelled frenzy of honour killings in Iraq").

55 Der Danish Immigration Service (DIS) hebt in diesem Zusammenhang ebenfalls hervor, das Gut der familiären Ehre sei in der kurdischen Gesellschaft elementar. Verstöße hiergegen würden mit zunehmendem Zeitablauf nicht an Bedeutung verlieren, vielmehr könne die verletzte Familie noch über Jahre oder gar über Generationen hinweg Vergeltung suchen (DIS, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 3). Sofern die Familie einem geflohenen Paar nicht bereits aktiv nachstellt und sodann Gewalt ausübt, sind auch Fälle dokumentiert, in denen der tödliche Angriff erfolgte, nachdem die Familie das Paar zunächst unter dem Deckmantel der Versöhnung zur Rückkehr bewegt hatte (Staatssekretariat für Migration, Report on Joint Finnish-Swiss Fact-Finding Mission to Amman and the Kurdish Regional Government (KRG) Area, May 10-22, 2011, S. 42). Zudem werden nach Erkenntnissen des Europäischen Zentrums für kurdischen Studien Stammesverbindungen dafür eingesetzt, um Personen aufzuspüren, an denen Blutrache ausgeübt werden soll, auch wenn es keinen Erfahrungssatz dahingehend gebe, dass sich sämtliche Stammesangehörige an einer Suche beteiligten. Ein besonderes Entdeckungsrisiko bestehe dann, wenn der betreffende Stamm zu den besonders einflussreichen Stämmen zähle, deren Angehörige z.B. mehrheitlich eine Nähe zur Demokratischen Partei Kurdistan aufwiesen und exponierte Positionen im Staatsapparat besetzten (EZKS, Auskunft vom 14. Juli 2006 gegenüber dem VG Regensburg – RO 4K 05.30031, S. 2).

56 Das Deutsche Orient-Institut (DOI) führt in einem Gutachten aus Juni 2005 aus, der bloße Umstand einer Trennung bzw. Scheidung begründe nicht die Gefahr eines "Ehrenmordes" zur Wahrung des familieninternen Verständnisses von Ehre und Ansehen (DOS, Gutachten vom 14. Juni 2005 – Az.: 1789 al/br, S. 2-4). Schande könnte die Betroffene ihrer Familie indessen dann bringen, wenn sie nach der Trennung einen "sittenlosen Lebenswandel" führen würde. In einem solchen Fall würden die männlichen Familienangehörigen sie zunächst zur Ordnung rufen und, bei einem massiven Verstoß gegen die dortigen Anschauungen, ihr auch körperlich nahetreten (DOI, a.a.O., S. 3). Die Tötung einer Frau drohe dann, wenn der Ehemann sich scheiden lasse, weil die Ehefrau in ehebrechender Weise unerlaubte Beziehungen zu anderen Männern unterhalten habe (DOI, ergänzendes Gutachten vom 30. Januar 2006 – Az.: 1789 al/br, S. 6). Naturgemäß verfüge der Mann dabei über die Möglichkeit, seine Frau "nach allen Regeln der Kunst" schlecht zu machen und ihr die (mittelbare) Verantwortung für die Scheidung zuzuschieben. In einem solchen Fall würde das persönliche Umfeld ihm glauben, nicht hingegen der Frau, und zwar selbst dann, wenn alle Evidenz gegen den Mann spreche (DOI, a.a.O., S. 8 f.).

57 Nach einem Bericht der Nichtregierungsorganisation Heartland Alliance aus Januar 2011 (Heartland Alliance, Institutionalized Violence Against Women and Girls. Laws and Practices in Iraq, Januar 2011, www.heartlandalliance.org/international/wp-content/uploads/sites/15/201/02/Institutionalized-Violence-Against-Women-and-Girls-in-Iraq-Laws-and-Practices-January-2011.pdf, S. 21; auszugsweise abgedruckt bei SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 5. Februar 2011 zum Irak: Frauenhäuser in Kirkuk, S. 5 f.) stellt Ehebruch im Irak ebenso wie in den meisten anderen muslimischen Ländern eine Straftat nach Art. 377 des irakischen Strafgesetzbuchs (Iraqi Penal Code (IPC)) dar, welche als Vergehen im Sinne des Art. 26 Abs. 1 IPC mit einer Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und fünf Jahren zu bestrafen ist. Männer seien ebenfalls nach dieser Vorschrift strafbar, jedoch diskriminiere das irakische Recht Frauen dahingehend, dass diese unabhängig vom Ort der Begehung des Ehebruchs zu bestrafen seien (Art. 377 Abs. 1 IPC). Männer seien nur strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, sofern sie den Ehebruch in der ehelichen Wohnung begingen (Art. 377 Abs. 2 IPC). Die Heartland Alliance führt im vorgenannten Bericht überdies aus, die irakische Gesellschaft sehe Ehebruch als gravierendes soziales Vergehen gegen die Ehre der Familie, der Gemeinschaft und des Stammes an. Infolgedessen müssten Frauen ernsthaft befürchten, dass die Familie ihres Ehemannes oder ihre Herkunftsfamilie sie "zur Wiederherstellung der Ehre" töten würden (Heartland Alliance, a.a.O., S. 21). Die Tötung wegen Ehebruchs gelte dabei als einer von mehreren sozial anerkannten Gründen, Frauen wegen der "Entehrung der Familie" zu töten. Dabei könne bereits die bloße Anschuldigung, Ehebruch begangen haben, die Grundlage für einen "Ehrenmord" sein, wobei gerade Frauen die Bürde obliege, die Familienehre zu wahren. Ehemänner, die ihre Frauen misshandelten, würden den Straftatbestand zudem häufig als Drohkulisse nutzen, um ihre Frauen gefügig zu halten, aber auch dazu, um sich selbst zur Vorbereitung einer neuen Ehe unter vereinfachten Bedingungen scheiden zu lassen (Heartland Alliance, a.a.O., S. 21). Frauen, die des Ehebruchs angeklagt und/oder verurteilt würden, verlören üblicherweise das Sorgerecht für ihre Kinder und könnten sich unter keinen Umständen wieder sicher in ihre Herkunftsfamilien oder örtlichen Gemeinschaften integrieren (Heartland Alliance, a.a.O., S. 21).

58 Diese Erkenntnismittellage zum Risiko von Frauen in der kurdischen Autonomieregion, die gegen den Willen ihrer Herkunftsfamilie heiraten und/oder des Ehebruchs bezichtigt werden, finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht ist aufgrund ihrer glaubhaften und substantiierten Angaben sowie der vorliegenden Beweismittel zu der Überzeugung gelangt, dass ihr im Falle einer Rückkehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit droht, Opfer von Gewalttaten durch ihren Ehemann oder Familienangehörige zu werden, die bis zum sogenannten Ehrenmord reichen können. Die Klägerin zu. 1 schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Wiedergabe von Komplikationen im Handlungsverlauf, unter Beschreibung deliktsspezifischer Merkmale sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten sowie prägnanter Äußerungen. Zudem erwies sich die Schilderung in Bezug auf das verfolgungsrelevante Kerngeschehen im Wesentlichen als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Soweit die Klägerin zu 1. in Bezug auf einen Aspekt von den beim Bundesamt protokollierten Feststellungen abwichen, konnte sie hierfür plausible Gründe dartun. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift verwiesen. [...]

62 Die der Klägerin zu 1. drohende Verfolgung ist auch rechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Letzteres ist hier der Fall. Unter Berücksichtigung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel steht der Klägerin zu 1. gegenüber der ihr im Irak drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung durch ihre Familienangehörigen und ihren Ehemann kein effektiver Schutz durch staatliche Organe zur Verfügung.

63 Nach § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann Schutz vor der Verfolgung u.a. vom Staat geboten werden, sofern dieser willens und in der Lage ist, Schutz gemäß § 3d Abs. 2 AsylG zu leisten. Hiernach muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in § 3d Abs. 1 AsylG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Letzteres setzt voraus, dass die Betroffenen einen realistischen Zugang zu den Schutzmaßnahmen haben, was insbesondere erfordert, dass sie den Schutz gefahrenfrei in Anspruch nehmen können (Kluth, in: BeckOK AuslR, Stand: November 2017, § 3d AsylG, Rn. 3). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin zu 1. nicht gegeben. Ihr ist es nicht möglich, im Falle ihrer Rückkehr auf eine für sie zumutbare Weise wirksamen Schutz vor der Bedrohung durch ihre Familie väterlicherseits bzw. ihren Ehemann zu erlangen.

64 Das britische Innenministerium verweist in einem aktuellen Bericht aus August 2017 auf eine Stellungnahme der Kurdish and Middle Eastern Women’s Organisation (KMEWO) aus Mai 2014, der zufolge die kurdischen Behörden als nicht willens oder nicht in der Lage erschienen, von Ehrverbrechen bedrohten Personen Schutz zu bieten (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.8). Dieses deckt sich mit einer Auskunft des Hohen Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2015 (Danish Refugee Council (DRC) and Danish Immigration Service (DIS), ‘The Kurdistan Region of Iraq (KRI) – Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation – Report from fact finding mission to Erbil, the Kurdistan Region of Iraq (KRI) and Beirut, Lebanon, 26 September to 6 October 2015’, April 2016, S. 48).

65 Nach Erkenntnissen des britischen Innenministeriums erweist sich die Strafverfolgungspraxis in der kurdischen Autonomieregion grundsätzlich als effektiver im Vergleich zum Süd- bzw. Zentralirak, wobei das Niveau nochmals von Gebiet zu Gebiet variiere. Nach Angaben örtlicher Auskunftspersonen hätten die kurdischen Behörden das Potential, in den von ihnen kontrollierten Territorien sehr effektive Sicherheit zu gewährleisten. Sofern sie allerdings eine bestimmte Person nicht schützen wollten, könnten sie diese Entscheidung ebenfalls sehr effektiv durchsetzen. Hiermit korrespondierend hänge die Möglichkeit, staatlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, davon ab, wer der Verfolger sei. Die Polizei und das Gerichtssystem seien anfällig gegenüber dem Einfluss politischer Akteure sowie bekannter Familien und Stämme. Dies könne zur Folge haben, dass ein Täter eines Ehrverbrechens trotz einer eindeutigen belastenden Beweislage freigesprochen werde (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.1; ebenso: DIS, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9). Nach Aussage des Danish Immigration Service, die sich auf Erkenntnisse des Hohen Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen stützt, bringe die örtliche Bevölkerung den kurdischen Strafverfolgungsbehörden wenig Achtung entgegen. Trotz einiger ausgezeichneter Gesetze, die internationalen Standards entsprächen, reagierten die Gerichte oft nicht auf Rechtschutzgesuche. Der Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz sei abhängig von der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, dem jeweiligen Stamm, Beziehungen, Familie und Verwandten. Für den Einzelnen sei es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, selbst für seine Rechte einzutreten (Danish Refugee Council (DRC) and Danish Immigration Service (DIS), ‘The Kurdistan Region of Iraq (KRI) – Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation – Report from fact finding mission to Erbil, the Kurdistan Region of Iraq (KRI) and Beirut, Lebanon, 26 September to 6 October 2015’, April 2016, S. 45). Konkretisiert wird diese Auskunft in der aktuellen Stellungnahme aus November 2018. Nach Auskunft mehrerer Kontaktpersonen würden die Gesetze gegen Ehrenverbrechen in der kurdischen Autonomieregion nicht effektiv umgesetzt. Ein Grund hierfür sei, dass die herrschenden Parteien in einigen Fällen die Täter schützen würden, was oftmals zu Freisprüchen führe. Die politischen Parteien würden nicht nur ihre eigenen Mitglieder schützen, sondern auch einflussreiche Personen und solche, die mit ihnen affiliiert seien (DIS/LANDINFO, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, November 2018, S. 15 f.). Nach Angabe einer akademischen Quelle würden nur finanziell schlechtgestellte Täter ohne Einfluss bzw. Beziehungen verurteilt. Wohlhabende Personen oder solche mit Beziehungen zu den herrschenden Parteien seien in der Lage, Richter durch politischen Druck, Bestechungsgelder oder falsche Alibis zu manipulieren. Der Quelle selbst sei kein Fall bekannt, in dem jemals ein hochrangiges Mitglied der beiden Parteien KDP oder PUK jemals für die Tötung einer Frau verurteilt worden sei (DIS/LANDINFO, a.a.O., S. 16).

66 Zahlreiche Beispielsfälle, so auch das britische Innenministerium, würden die Unfähigkeit des Gerichtssystems verdeutlichen, einen Abschreckungseffekt gegenüber Straftaten zum Nachteil von Frauen zu entfalten, ferner die weiterhin deutlich sichtbare Tendenz, Ehrverletzungen als eine Rechtfertigung für Gewalt zu akzeptieren. Als Faustregel ließe sich festhalten, dass Ehrenverbrechen entweder nicht angezeigt oder nicht verfolgt würden. Die Polizei und die Gerichte würden die bestehenden Gesetze gegen Ehrenmorde nicht umsetzen, weil sie die Ansicht verträten, diese unterfielen der Verantwortungs- und Ermessensebene der männlichen Familienmitglieder. Nur wenige dieser Fälle würden tatsächlich bei Gericht landen, und wenn dies einmal geschähe, erhielten die Täter Freisprüche oder lediglich äußerst milde Strafen. Nach Auskunft der Nichtregierungsorganisation WADI sei keine Person, die eine durch Ehrverletzungen motivierte Straftat begangen habe, jemals zu einer Haftstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden, sofern der Betroffene überhaupt eine Haftstrafe erhalten habe. Zudem bestehe stets die Möglichkeit, nach Abschluss einer innerfamiliären Schlichtungsvereinbarung oder einer Übereinkunft zwischen zwei beteiligten Stämmen eine frühzeitige Haftentlassung zu erhalten (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.1 ff.). Auch nach Auskunft des DIS/LANDINFO, die sich auf Angaben örtlicher Kontaktpersonen beruft, erhalten Täter von Ehrverbrechen lediglich geringe Strafen, zum Teil lediglich Haftstrafen von einem Jahr. Teilweise würden Personen auch freigesprochen und die Taten als Selbsttötungen eingeordnet, obwohl der gerichtsmedizinische Report eine Schussverletzung als Todesursache angebe. Sofern die Familie erkläre, sie verzeihe dem Täter, werde er eine geringere Strafe oder sogar eine Amnestie erhalten, insbesondere bei einflussreichen Personen. Das Gleiche gelte, wenn der Täter zum ersten Mal straffällig geworden sei. In manchen Fällen beauftrage die Familie gezielt einen Minderjährigen mit der Durchführung eines Ehrenmordes, da dieser ebenfalls eine geringe Strafe erhalten würde (DIS/LANDINFO, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, November 2018, S. 17). Der Danish Immigration Service nimmt zudem auf die Angaben örtlicher Quellen Bezug, denen zufolge es sehr wahrscheinlich sei, dass ein Täter eines Ehrverbrechens im Falle einer (vorzeitigen) Verhaftung und Verurteilung ein noch stärkeres Bedürfnis entwickele, Rache zu nehmen. Im Übrigen bestehe auch die Möglichkeit, dass seine Familie während der Dauer der Inhaftierung an seiner Stelle versuche, Rache auszuüben (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9).

67 Der gemeinsame Bericht des DIS/Landinfo erklärt des Weiteren, dass von Ehrverbrechen bedrohte Frauen faktisch keinen Schutz durch Polizeibehörden erhielten. Polizeibeamte würden Frauen in vielen Fällen erklären, dass dies eine innerfamiliäre Angelegenheit sei, sie beschwichtigend auffordern, mit ihrer Familie zu reden oder sie direkt zu ihrer Familie zurückschicken. Alternativ würden sie die Frauen persönlich für die Bedrohung oder die Gewaltausübung verantwortlich machen; zum Teil bestehe außerdem das Risiko, dass Polizisten selbst die Frauen belästigten (DIS/LANDINFO, a.a.O., S. 18).

68 Nach den Erkenntnissen des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl bestehen darüber hinaus im Irak im Allgemeinen keine Zufluchtsstätten für von Ehrenverbrechen bedrohten Frauen. In der kurdischen Autonomieregion existierten zwar drei offizielle Frauenhäuser, aber um in einem solchem unterkommen zu dürfen, sei ein Gerichtsbeschluss erforderlich, was ein beträchtliches Hindernis für eine bedrohte Frau darstelle. Darüber hinaus käme es häufig vor, dass die Behörden ohne Zustimmung des Opfers den Täter zu dem Frauenhaus brächten und auf Kosten des Opfers versuchten, eine Lösung auszuhandeln. Sofern einige Frauenrechtsorganisationen im Irak Bestrebungen hätten, im Geheimen inoffizielle Unterkünfte zu betreiben, würden diese oft von den Behörden geschlossen, die solche Einrichtungen scheinbar teilweise als Bordelle betrachteten. Es sei nicht unüblich, dass Frauen für längere Zeit in Polizei-Gefängniszellen säßen, weil sie von ihren Familien bedroht würden und keine andere Unterkunftsmöglichkeit besäßen (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 139 f.). Der Bericht des DIS/LANDINFO ergänzt dies um den Hinweis, in eiligen Fällen könne sich eine Frau direkt an ein Frauenhaus wenden und einen Gerichtsbeschluss über die Unterbringung nachträglich erwirken. Allerdings dürften untergebrachte Frauen die Frauenhäuser auch nicht ohne Gerichtsbeschluss verlassen. Zudem dürften Familienangehörige die Frauen auch ohne deren Zustimmung weiterhin im Frauenhaus aufsuchen (DIS/LANDINFO, a.a.O., S. 18). Das schweizerische Staatssekretariat für Migration teilt zudem unter Berufung auf Erkenntnisse der Nichtregierungsorganisation WADI mit, eine von einem Ehrverbrechen bedrohte Frau erhalte keine Hilfe seitens der kurdischen Regionalregierung, um in einen anderen Teil des Landes zu ziehen (Staatssekretariat für Migration, Report on Joint Finnish-Swiss Fact-Finding Mission to Amman and the Kurdish Regional Government (KRG) Area, May 10-22, 2011, 1. Februar 2012, S. 44).

69 Überdies steht der Klägerin vor der weiterhin drohenden Schadensgefahr kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor dem drohenden ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung an (s. etwa: Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17), dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können (zu den Fluchtmöglichkeiten innerhalb der kurdischen Autonomieregion bei einem drohenden Ehrenmord s. VG Hannover, Urt. v. 11.6.2018 – 6 A 7325/16, juris Rn. 54 f.). Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Dieser negative Befund gilt erst recht im Falle der Klägerin zu 1., die sich als alleinerziehende Mutter zweier minderjähriger Kinder, wie dargestellt, sowohl in der kurdischen Autonomieregion als auch im restlichen Irak in einer besonders verletzlichen Position befindet und nicht in der Lage ist, alleinverantwortlich ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. [...]