VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 06.11.2018 - 6 A 5053/17 - asyl.net: M26993
https://www.asyl.net/rsdb/M26993
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung aufgrund drohender Gruppenverfolgung durch IS:

"1. Irakischen Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft drohte in der Provinz Ninawa ab dem Sommer 2014 eine allein an ihren Glauben anknüpfende Gruppenverfolgung durch Anhänger des sog. Islamischen Staates (IS).

2. Die zwischenzeitlich eingetretenen militärischen Erfolge im Kampf gegen den IS im Irak rechtfertigen gegenwärtig (noch) nicht die Annahme im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikations­richtlinie), es sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass vorverfolgt ausgereiste Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft in der Provinz Ninawa erneut von solcher Verfolgung bedroht werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Yesiden, Ninawa, Ninive, Islamischer Staat, IS, Gruppenverfolgung, religiöse Verfolgung, Verfolgungsprognose, Qualifikationsrichtlinie,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

22 Die Kammer hat darüber hinaus bereits mit Urteil vom 15. August 2014 (6 A 9853/14 - juris Rn. 20 - 24) angenommen, dass große Teile der Provinz Ninawa mit der Hauptstadt Mosul im August 2014 unter der Kontrolle der Dschihadistengruppe Islamischer Staat - IS - gestanden haben und yezidischen Religionsangehörigen deshalb in der Provinz Ninawa mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit gedroht hat. Davon sind auch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen im Urteil vom 2. September 2014 (18a K 223/13.A - juris), das Verwaltungsgericht Köln in seinem Urteil vom 15. August 2014 (18 K 386/ 14.A - juris) und das Verwaltungsgericht Frankfurt in seinem Urteil vom 3. Juli 2014 (4 K 2317/ 13 F.A. - juris) ausgegangen. In jüngerer Zeit hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Urteil vom 08.03.2017 - 15 a K 5929/16.A - juris Rn. 76) abermals angenommen, dass yezidische Religionsangehörige, die aus der Provinz Ninawa stammen, jedenfalls im Sommer 2014 der Gefahr einer Gruppenverfolgung wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit ausgesetzt gewesen sind. Auch die Kammer geht in gefestigter Rechtsprechung (z.B. Urteil vom 26.10.2017 - 6 A 9126/17 und 6 A 7844/17) weiterhin davon aus, dass yezidischen Religionsangehörigen in der Provinz Ninawa beginnend ab Sommer 2014 in Anknüpfung an ihre Religion die Gefahr einer Gruppenverfolgung gedroht hat.

23 Dass der IS in diesem Zusammenhang schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG und damit die Gewährung von Flüchtlingsschutz rechtfertigende Verfolgungshandlungen begangen hat, liegt nicht nur der angeführten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zugrunde, sondern ist auch vom UN - Menschenrechtsrat angenommen worden. Der IS hat nach Auffassung des UN-Menschrechtsrats an den Yeziden Völkermord begangen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt (vgl. UN-Menschenrechtsrat, "They Came to Destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1). Es kam zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsvertreibungen und Massenmord (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 12).

24 Diese Verfolgungshandlungen haben auch im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG an die yezidische Religionszugehörigkeit und damit an einen in §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG genannten Verfolgungsgrund angeknüpft. Der IS fokussierte seinen Angriff von Beginn an aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit auf die Yeziden und strebte systematisch ihre Vernichtung an (vgl. UN-Menschenrechtsrat, "They Came to Destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1). Für die Extremisten des IS sind die Yeziden "Ungläubige", sogenannte "Teufelsanbeter", die mit dem Tod bestraft werden können (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 18). Diese religiöse Deutung bestimmt(e) das Verhalten der IS-Kämpfer während des Angriffs auf die Sindschar-Region und die daran anschließende Misshandlung von yezidischen Männern, Frauen und Kindern. Die Tötung nicht konvertierender yezidischer Männer und Jungen, die sexuelle Ausbeutung und Versklavung von yezidischen Frauen und Mädchen, die Entführung, Indoktrinierung und Rekrutierung von yezidischen Jungen knüpfte nahtlos an den religiösen Auftrag der IS-"Gelehrten" hinsichtlich der Behandlung von yezidischen Gefangenen an. Während und nach dem Angriff vom 03.08.2014 zerstörte der IS yezidische Heiligtümer und Tempel in der Sindschar-Region. Yezidische Häuser wurden als solche markiert und geplündert (vgl. UN-Menschenrechtsrat, "They Came to Destroy": ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 29-30).

25 Entgegen der vom Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid geäußerten Auffassung entfällt die Annahme einer Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht dadurch, dass der Kläger zunächst in die Türkei floh und sich sodann in ein Flüchtlingslager in Dohuk begab. Für die Frage, ob die Ausreise im Zusammenhang mit der Verfolgung stand, ist auf die Herkunftsregion des Klägers bzw. seinen dauerhaften freiwilligen Wohnort abzustellen, nicht hingegen auf ein Gebiet, in das er sich gerade gezwungenermaßen im Rahmen seiner Flucht begab. Ob inländische Fluchtalternativen bestehen, betrifft zudem, wie bereits dargestellt, nicht die Frage, ob eine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie tatbestandlich überhaupt vorliegt, sondern die Prüfung, ob die Vermutungswirkung der Norm ausnahmsweise widerlegt ist.

26 Es liegen ferner derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, welche aus der Sicht des Einzelrichters die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak keinen religiös motivierten Verfolgungsmaßnahmen mehr ausgesetzt sein würde (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Sofern beispielsweise das Verwaltungsgericht Oldenburg (Urteil vom 27.02.2018 – 15 A 883/17 -, juris), das Verwaltungsgericht Lüneburg (Urteil vom 26.03.2018 – 5 A 472/17 -, juris) und das Verwaltungsgericht Karlsruhe (Urteil vom 04.07.2018 – A 10 K 177769/17 -, juris) in jüngeren Entscheidungen ausführen, es sprächen nunmehr stichhaltige Gründe gegen eine erneute (Gruppen-)Verfolgung der Yeziden in der Provinz Ninawa, weil der IS nicht mehr über die für eine systematische Verfolgung erforderlichen Strukturen verfüge, schließt sich der Einzelrichter dieser Rechtsprechung nicht an. Die Gefährdung, welche nach Maßgabe der vorgenannten Erkenntnismittel von Anhängern des IS für Andersdenkende ausgeht, entfällt insbesondere nicht aufgrund des Umstandes, dass der damalige irakische Regierungschef Haider al-Abadi am 9. Dezember 2017 den Krieg gegen die IS-Terrormiliz in seinem Land für beendet erklärt hat (Artikel der Zeit vom 09.12.2017: "Irak verkündet Ende des Krieges gegen den IS").

27 Zwar steht die Region um Sindschar nicht mehr unter der direkten territorialen Kontrolle des IS. Dies reicht aber im Hinblick auf die massiven Rechtsgutverletzungen, die den Yeziden durch Angehörige des IS drohen, nicht aus, um die aus Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie abzuleitende Vermutung einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr hinreichend zu entkräften. Der IS hat in Irak Menschenrechtsverletzungen erheblicher Grausamkeit verübt; die schweren und systematischen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte bei den Verbrechen gegen die Yeziden sind unvorstellbaren Ausmaßes (so ausdrücklich: Bericht der Bundesregierung zur Lage in Irak und zum deutschen Irak-Engagement, 4. September 2018, BT-Drucks. 19/4070, S. 17). In Ansehung dieser massiven Rechtsverletzungen, die Angehörige des IS gegenüber Yeziden begangen haben, haben sich die Verhältnisse in der Provinz Ninawa derzeit noch nicht so stabilisiert, dass eine Wiederholung religiös motivierter Verfolgungshandlungen gegenüber Yeziden hinreichend sicher bzw. stichhaltig ausgeschlossen werden kann. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der IS weiterhin nennenswerte Gebiete im Süd-Westen der Provinz Ninawa kontrolliert (s. isis.liveuamap.com, Abruf: 6.11.2018). Angesichts des Ausmaßes der Gefahr kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen Furcht vor Verfolgung jedoch auch dann hervorgerufen werden, wenn der IS (lediglich) in der unmittelbaren Umgebung der eigenen Herkunftsregion Gebiete kontrolliert, denn Gebietsgewinne und -verluste sind im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen jederzeit denkbar. Nach neueren Erkenntnissen der Bundesregierung soll der IS in seinem syrisch-irakischen Kerngebiet zudem weiterhin über bis zu 10.000 Kämpfer verfügen (Artikel des Tagesspiegels vom 9. September 2018, S. 1 der Druckversion). In Bezug auf die Provinz Ninawa und deren Hauptstadt Mosul führt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem Länderbericht betreffend den Irak überdies aus (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 20):

28 "Die Organisation IS ("Islamischer Staat") wurde zwar massiv zurückgedrängt (s. Länderinformationsblatt inkl. bisherige Kurzinformationen), befindet sich aber weiterhin in Teilen der Provinzen Ninewa, Salah Al-Din und Anbar. Es muss dort weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen IS-Verbündeten und den irakischen Sicherheitskräften, regional-kurdischen Peschmerga, Milizen und auch mit US-Luftschlägen gerechnet werden. In der Provinz Ta’mim kommt es regelmäßig zu Kämpfen zwischen terroristischen Gruppen und kurdischen Peschmerga (AA 24.10.2017). Veröffentlichungen von Audiobotschaften des IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi zielen darauf ab, die Gerüchte rund um seinen Tod zu entkräften und die IS-Kämpfer in Syrien und Irak zur Standhaftigkeit aufzurufen. In Mosul etwa wurde der IS zwar vor drei Monaten besiegt, die Organisation stellt dort jedoch noch immer eine Bedrohung dar. Alleine im Zeitraum 19.9.2017 bis 13.10.2017 wurden dort zwölf Selbstmordattentäter getötet. In der Provinz Anbar versuchte der IS Ende September 2017 die Kontrolle über Teile der Stadt Ramadi wiederzuerlangen. Kurzzeitig konnten einige IS-Truppen tatsächlich Teile der Stadt besetzen, letztlich scheiterte der Versuch jedoch. Anbar war stets eine Hochburg von sunnitischen Aufständischen (IFK 13.10.2017)." [...]

30 Bei Beurteilung der Frage, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie widerlegt wird, ist zudem maßgeblich in Rechnung zu stellen, dass die Organisation des IS im Irak bereits zweimal, d.h. in den Jahren 2008 und 2011, vermeintlich zerstört wurde, sich jedoch tatsächlich jeweils in den Untergrund verlagerte und allmählich wieder erstarkte. Auch in der gegenwärtigen Situation gehen Beobachter davon aus, dass die Terrororganisation IS sich die personelle und finanzielle Basis für einen erneuten Aufstieg zu einem günstigen Zeitpunkt, d.h. bei einem Machtvakuum, einem Bürgerkrieg oder einer Unterdrückung der sunnitischen Minderheit, dadurch aufrechterhält, indem sie – wie in der Anfangsphase der Organisation bzw. seiner Vorgängerorganisationen - Drogenschmuggel, Menschenhandel, Entführungen oder illegale Finanzgeschäfte betreibt und parallel ihre religiöse Ideologie im Internet verbreitet. Derartige Aktivitäten kann der IS auch ohne einen territorialen Geltungsanspruch durchführen (Artikel der Zeit vom 27.12.2017: "Dschihad der Staatenlosen"). Dieses gilt umso mehr, als es dem IS nach Schätzungen des irakischen Parlaments gelungen ist, ca. 400 Millionen US-Dollar aus seinem einstigen Herrschaftsgebiet herauszuschmuggeln, wobei die Organisation einen Teil der Summe mit Hilfe von Mittelsmännern in Bagdad und in anderen Landesteilen (z.B. in Wechselstuben) reinvestiert hat, um seinen Untergrundkampf zu finanzieren (Artikel des Spiegel vom 20. Januar 2018: "Ölquellen weg, Geldschrank voll"). Die Zeitschrift Middle East Eye führt des Weiteren in einem Artikel vom 13. Juli 2017 aus, die Aussage über das Ende des IS im Irak sei Wunschdenken, welches die wahre Natur der Organisation nicht berücksichtige. Zwar sei es möglich, von einem zeitweisen Ende des politischen Projekts des IS zu sprechen, d.h. als ein Staat mit Regierungsstrukturen, einem territorialen Geltungsanspruch und einem Militärapparat, der sich auf konventionelle Kriegsführung gründe. Der IS werde jedoch schlichtweg zu seiner ursprünglichen Form zurückkehren, namentlich einer ideologischen Organisation mit Strukturen und Finanzierungswegen, welche auf den Prinzipien des Guerillakriegs und der damit einhergehenden Zermürbung staatlicher Strukturen basiere (The Middle East Eye, Artikel vom 13. Juli 2017, "The final defeat of IS in Mosul? Not by a long shot", S. 2 f. der Druckversion). Hiermit korrespondierend nimmt die Bundesregierung in ihrem Bericht zur Lage in Irak und zum deutschen Irak-Engagement vom 4. September 2018 zur fortdauernden Gefährdung durch den IS wie folgt Stellung (BT-Drucks. 19/4070, S. 4, 14): [...]