Flüchtlingsanerkennung für einen Iraker, der wegen seiner offen atheistischen Haltung und öffentlichen Religionskritik verfolgt wurde.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
27 Ausweislich der dem Gericht zum Irak vorliegenden Erkenntnismittel besteht für Personen, die sich – wie der Kläger – offen zu ihren atheistischen bzw. islamkritischen Anschauungen bekennen, eine besondere Gefahr, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch religiöse Fundamentalisten zu werden (s. hierzu bereits VG Hannover, Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 5109/16 –, juris; Urteil vom 25.06.2018 – 6 A 3984/17 –, juris). Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln hat der Atheismus im Irak tiefgehende historische Wurzeln, wobei sich die Verbreitung in allen Gesellschafts- und Altersschichten jedoch als neues Phänomen erweist. In einer 2011 veröffentlichten Umfrage der kurdischen Nachrichtenagentur AKnews wurden irakische Bürger befragt, ob sie an Gott glauben. Vier Prozent antworteten mit "wahrscheinlich nicht", sieben Prozent mit "Nein" (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Doccumentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 1 f. der Druckversion). Ergänzend führt ACCORD in seiner Stellungnahme aus September 2017 aus (ACCORD, a.a.O., S. 3 der Druckversion):
28 "Die irakische Nachrichtenwebsite The Baghdad Post schreibt im Januar 2017, dass laut Angaben von Experten die Anzahl junger irakischer Männer und Frauen, die sich dem Atheismus zuwenden würden, steige. Sie würden meist aus einem intellektuellen Milieu kommen und ihre radikalen Meinungen auf sozialen Medien verbreiten. Dort würden sie Gott, sowie den Propheten Mohammed und seine Familie angreifen. Das Phänomen des Atheismus habe soziale und intellektuelle Gründe, so The Baghdad Post weiter. Laut Experten habe sich der Atheismus ausgebreitet, da sunnitische und schiitische Politiker und Milizen die Religion missbraucht hätten, um mehr Anhänger zu gewinnen […]"
29 Nach irakischem Recht besteht dabei keine ausdrückliche Strafandrohung für Menschen, die vom islamischen Glauben abfallen. Die Verfassung erklärt einerseits den Islam als die offizielle Religion und legt fest, dass kein Gesetz beschlossen werden darf, das den "bestehenden Vorschriften des Islam" widerspricht, andererseits gewährt sie das Recht auf Religionsfreiheit für Muslime, Christen, Jesiden, und Sabäer/Mandäer. Ein vom Islam abkehrender Religionswechsel wird jedoch rechtlich nicht anerkannt, so das beispielsweise auf der Identitätskarte einer (zum Christentum) konvertierten Person auch nach deren Konversion noch steht, dass sie/er Muslimin/Muslim ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 125 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20. Mai 2016 zu Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 1).
30 Feindseligkeiten gegenüber Konvertiten oder Atheisten sind im Irak darüber hinaus weit verbreitet. Gefahren gehen zum Teil durch Mitarbeiter staatlicher Behörden aus, vor allem aber durch private Dritte, insbesondere religiöse Milizen, welche die im Irak bestehenden Strafgesetze zu Lasten von Atheisten oder Konvertiten auslegen (siehe ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 5 der Druckversion). Streng gläubige irakische Muslime halten Atheismus für strafrechtlich relevant und berufen sich hierbei auf Art. 372 des irakischen Strafgesetzbuches, in dem das Thema Blasphemie behandelt wird, obgleich unter den aufgelisteten strafbaren Handlungen Apostasie und Atheismus an keiner Stelle erwähnt werden (Humanistischer Pressedienst (HPD), Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak, S. 2 der Druckversion):
31 Im Irak dominiert dabei die gesellschaftliche Haltung gegenüber Atheisten, es handele sich bei ihnen um moralisch verdorbene Personen oder Agenten ausländischer Gruppen bzw. Mächte. Politiker islamischer Parteien heizen in Wahlkampfansprachen zum Teil gezielt die Stimmung gegen Atheisten an (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 2 der Druckversion):
32 "Al-Monitor schreibt in einem weiteren Artikel vom Juni 2017, dass islamische Bewegungen im Irak in den letzten Wochen ihre gegen Atheismus gerichtete Rhetorik intensiviert hätten, Iraker über die Verbreitung des Phänomens gewarnt und von einer Notwendigkeit gesprochen hätten, Atheisten entgegenzutreten. Die islamischen Bewegungen und Parteien seien besorgt, dass die öffentliche Stimmung sich gegen sie richten und sich dies wiederum auf die Wahlen auswirken könne, die für Ende 2017/Anfang 2018 angesetzt seien. Ammar al-Hakim, der Führer des zumeist schiitischen Parteienbündnisses Irakische Nationalallianz, das die große Mehrheit im Parlament und in der Regierung stelle, habe gegen die Verbreitung des Atheismus gewarnt. Manche Menschen, so al-Hakim, würden die Orientierung der irakischen Gesellschaft an religiösen Prinzipien und ihre Verbindung zu Gott verübeln. Er rufe dazu auf, diesen fremden atheistischen Ideen mit gutem Denken zu konfrontieren und den Unterstützern solches Gedankenguts mit einer "eisernen Faust" entgegenzutreten, indem man die Methoden offenlege, mit denen sie ihre Ideen propagieren würden. […] Während des Ramadan hätten religiöse Predigten in schiitischen Städten im Zentral- und Südirak die Verbreitung säkularer und atheistischer Ideen angegriffen, da diese als Bedrohung der irakischen Gesellschaft aufgefasst würden. Der ehemalige Premierminister Nuri al-Maliki, der weitreichenden Einfluss innerhalb der pro-iranischen Fraktionen der Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Units) habe, habe im Mai 2017 vor einer angeblichen gefährlichen Verschwörung säkularer und nichtreligiöser Bewegungen gewarnt, die die islamischen Parteien entmachten und selbst die Kontrolle erlangen wollen würden."
33 In einem Bericht für den Zeitraum von 2013 bis September 2016 hob das Immigration and Refugee Board of Canada überdies hervor (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 2 f. der Druckversion), dass es nach Erkenntnissen der Zeitschrift Al-Monitor zahlreiche irakische Websites für Atheisten gebe. Ihre Mitgliederlisten würden diese jedoch geheim halten aus der Angst heraus, verfolgt oder getötet zu werden, sei es durch extremistische religiöse Milizen oder Gruppen, sei es gar durch einfache Bürger auf der Straße.
34 Zu den Gefahren offen religionskritischer Äußerungen auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion führt der Humanistische Pressedienst aus (HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak):
35 "Das gilt zum Teil auch für die als vergleichsweise tolerant bekannte Autonome Region Kurdistan im Nordirak mit einer eigenen Regionalregierung in Erbil. Sie beansprucht für sich eine noch weitergehend säkularere Ausrichtung, als sie offiziell im übrigen Irak gilt. Und in der Tat werden dort Islam-kritische Diskussionen weniger rigide unterdrückt als anderswo. Religiöse Minderheiten können sich in Kurdistan außerdem erheblich sicherer fühlen als im übrigen Irak und suchen dort auch gezielt Schutz vor dem IS. Gleichzeitig ist besonders in Erbil die Gesellschaft nach wie vor sehr konservativ und erwartet, dass islamische Normen von allen respektiert werden. Auch in den kurdischen Autonomiegebieten ist es daher nicht überall ratsam, sich offen als Atheist zu bekennen."
36 In seiner Stellungnahme aus September 2016 zitiert das Immigration and Refugee Board of Canada zudem einen kurdischen Journalisten aus Erbil mit den Worten, es sei in Kurdistan einfacher als im Rest des Irak, sich zum Atheismus zu bekennen, was jedoch nicht heiße, dass die Menschen vor Ort diesen Schritt auch akzeptieren würden. Ein Vertreter des Kurdistan Secular Center, einer Einrichtung, welche die Trennung von Staat und Religion propagiere, habe zudem in einem Telefoninterview im August 2016 hervorgehoben, die generelle öffentliche Haltung sei, dass man sich nicht gegen Religionen aussprechen dürfe. Menschen mit säkularen Ansichten hätten generell große Angst davor, öffentlich ihre Ansichten zur Religion kundzutun. Sich öffentlich als Atheist zu bekennen, könne tödlich sein, da die Gefahr bestehe, auf der Straße angegriffen oder von der eigenen Familie verstoßen zu werden. Hiermit korrespondierend habe die kurdisch-irakische Nachrichtenseite Safaq News am 16. Mai 2014 darüber berichtet, dass Atheisten im Irak fürchteten, wegen ihrer Anschauungen getötet zu werden (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 1-3 der Druckversion). [...]
41 [...] Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteure sind nämlich erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, Atheisten im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten.
42 So beschreibt ACCORD in seiner Anfragebeantwortung aus September 2017, es sei angesichts der vorherrschenden Atmosphäre religiöser Auseinandersetzungen und des religiösen Fundamentalismus im Irak dringend notwendig, Atheisten, Agnostiker und Säkularisten zu schützen, da diese als Gruppe nicht anerkannt seien und keine irakischen oder internationalen Einrichtungen existierten, die sie schützen oder verteidigen würden (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 2 der Druckversion). Der Humanistische Pressedienst (HPD) ergänzt diesen Befund in seinem Artikel aus Januar 2017 wie folgt (HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak, S. 3 der Druckversion):
43 "Dass sich im Irak die staatliche Rechtsordnung weder an der Scharia orientiert noch Atheismus unter Strafe gestellt ist, hält auch Polizeivertreter und Richter vereinzelt nicht davon ab, Atheismus als Blasphemie zu deuten. Ein Atheist, der Feindseligkeiten seiner Umgebung ausgesetzt ist, wird daher zögern, sich damit an die Polizei zu wenden. Denn es könnte ihm ergehen wie Yousef Muhammad Ali aus der Region Darbandikhan in Irakisch-Kurdistan. Der erstattete 2014 bei der Polizei Anzeige gegen mehrere Personen, die ihn aufgrund seiner atheistischen und Islam-kritischen Äußerungen mit dem Tode bedroht hatten. Statt die Täter juristisch zu belangen, fand er selber sich plötzlich wegen Blasphemie auf der Anklagebank wieder. […] Manche Eltern möchten zwar von ihren atheistischen Kindern nicht hören, es gäbe keinen Gott, tolerieren gleichzeitig aber deren Areligiosität. In anderen Familien ist man da rigoroser, wie der Fall Ahmad Sherwan aus Erbil zeigt, der 2014 durch die Medien ging. Nachdem der damals 15jährige seinem Vater in einer privaten Religionsstunde mitgeteilt hatte, er glaube nicht an Gott, benachrichtigte dieser die Polizei, die seinen Sohn in Einzelhaft nahm und tagelang folterte. Nach 13 Tagen wurde er wieder freigelassen."
44 Auch das Immigration and Refugee Board of Canada betont, dass Menschen, die wegen ihrer atheistischen Auffassungen bedrängt würden, sich eher versteckten, als die Polizei um Hilfe zu bitten. Viele Polizisten und Richter würden Atheismus nämlich als nach Artikel 382 des Irakischen Strafgesetzbuchs zu ahndende Blasphemie ansehen (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 4). Diese Einschätzung hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll bestätigt durch Schilderung seines erfolglosen Versuches, bei der kurdischen Polizei bzw. einem dortigen Ermittlungsrichter eine Strafanzeige gegen die ihm unbekannten Verfasser eines Drohbriefes zu stellen. [...]