VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 27.02.2018 - 6 K 2663/16.GI - asyl.net: M27038
https://www.asyl.net/rsdb/M27038
Leitsatz:

1. Die Höchstdauer der Trennung zur Nachholung des Visumsverfahrens beim Familiennachzug zu Kleinkindern ist auf den Umfang des Jahresurlaubs des anderen Elternteils, also in der Regel auf sechs Wochen, begrenzt (anders als VG Frankfurt am Main, Urt.v. 26.9.2009 - 1 K 3657/08.F, wonach in Anlehnung an die Trennung von Soldaten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen sechs Monate noch erträglich sein sollen).

2. Mehrfache unerlaubte Einreisen stellen keinen Versagungsgrund dar, weil durch die familiäre Lebensgemeinschaft eine neue Situation entstanden ist und daher die Verpflichtung des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurückdrängt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, deutsches Kind, Kleinkind, Ausweisungsgrund, Ausweisungsinteresse, unerlaubte Einreise, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9,
Auszüge:

[...]

Vor diesem Hintergrund erfordert die Zumutbarkeitsprüfung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Dabei sind die legitimen Interessen (z.B. wirtschaftliche Interessen, Interesse an der Aufrechterhaltung der Familieneinheit) des Ausländers gegen das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumsverfahrens gegeneinander abzuwägen, wobei die Wirkungen der Grundrechte, insbesondere der Schutz von Bindungen des Ausländers im Inland durch Artikel 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK als höherrangigem Recht beachtet werden müssen. Hinsichtlich der Dauer einer mit der Nachholung des Visumsverfahrens verbundenen Trennung ist zu berücksichtigen, dass auch eine nur kurzfristige Trennung unzumutbar sein kann, wenn hiervon kleine Kinder des Ausländers betroffen sind, da diese den nur vorübergehenden Charakter der räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren (BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008, Az. 2 BvR 1830/08, juris, Rn. 33; Hess. VGH, a.a.O.). Damit kommt dem Tatsachengericht die Aufgabe zu, eine Vorstellung davon zu entwickeln, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet und welcher Trennungszeitraum realistisch zu erwarten ist (BVerfG, a.a.O.). In diesem Zusammenhang ist aus der maßgeblichen Perspektive des Kindes zu berücksichtigen, ob es auf die andauernde Anwesenheit eines Elternteils in unmittelbarer Nähe angewiesen ist. Unerheblich ist, ob die die Anwesenheit des Elternteils erforderliche Betreuung auch von anderen Personen, beispielsweise der Mutter des Kindes, erbracht werden könnte, weil der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuungsleistungen der Mutter entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002, Az. 2 BvR 231/00, juris, Rn. 22).

Anhand des aufgezeigten Abwägungsmaßstabes sprechen hier überwiegende Gesichtspunkte für die Annahme einer Ausnahme von der Durchführung des Visumsverfahrens nach § 5 Abs. 2 Satz 1 2. Fall AufenthG. Auf Seiten des Klägers und seiner Familie ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Nachholung des Visumsverfahrens die wirtschaftliche Grundlage der Familie erheblich beeinträchtigen würde. Denn hierzu trägt die Berufstätigkeit der Kindsmutter im Wesentlichen bei. Dies wiederum wird in der konkreten Situation durch die Übernahme der Betreuung des gemeinsamen Sohnes durch den Kläger ermöglicht, da bisher nachweislich kein Kinderbetreuungsplatz in einer kommunalen Einrichtung zu erlangen war. Mithin ist der Sohn des Klägers derzeit auf dessen dauernde Anwesenheit angewiesen. Die Nachholung des Visumsverfahrens führte zudem dazu, dass die Kindsmutter ihrer Berufstätigkeit für einen gewissen Zeitraum nicht nachgehen könnte und möglicherweise in einen (jedenfalls) zeitweiligen Sozialleistungsbezug fiele. Über die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Grundlage der Familie hinaus käme es durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zudem zur Beeinträchtigung öffentlicher Interessen. Gleichzeitig geht mit der seit Beginn der Arbeitstätigkeit der Kindsmutter übernommenen Betreuung des Sohnes durch den Kläger eine besonders enge Vater-Sohn-Beziehung einher, deren auch nur zeitweilige Auflösung durch die mit der Durchführung des Visumsverfahrens verbundene Trennung auf ein nur zweijähriges Kind schlicht unverständlich wirkte, da in diesem Fall eine maßgebliche Bezugsperson (zeitweise) wegfiele. Ausgehend hiervon wäre erforderlich, dass die Nachholung des Visumsverfahrens innerhalb eines Zeitraums durchzuführen wäre, währenddessen die Kindsmutter als zweite maßgebliche Bezugsperson eines derart kleinen Kindes dessen Betreuung übernehmen könnte, ohne ihren Arbeitsplatz aufgeben zu müssen. Dadurch wäre die Höchstdauer des zurnutbaren Trennungszeitraums aus Sicht des erkennenden Einzelrichters in der konkreten Situation auf den Umfang eines Jahresurlaubs begrenzt, mithin auf in der Regel sechs Wochen. Nicht gefolgt werden kann dem Beklagten in seiner Rechtsansicht, der hierzu auf das Urteil des VG Frankfurt am Main vom 26.09.2009 (Az. 1 K 3657/08.F, juris) verweist, dem Kläger sei eine Trennung von sechs Monaten zumutbar, weil diese in der Regel der Trennung eines Soldaten der Bundeswehr von seinem Kind im Falle eines Auslandseinsatzes entspreche und eine Besserstellung hier nicht angezeigt sei. Denn anders als im Falle des Soldaten der Bundeswehr hätte eine über den aufgezeigten Höchstzeitraum hinausgehende Abwesenheit des Klägers zudem Auswirkungen auf die wirtschaftliche Grundlage der Familie, weshalb die angeführte Entscheidung auf den hiesigen Fall nicht zu übertragen ist. [...]

Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht auch die Bestimmung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht entgegen. Hiernach ist in der Regel Voraussetzung, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. Dieses ist hier nicht gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG aufgrund mehrfacher Einreisen des Klägers in das Bundesgebiet zu sehen, ohne hierfür im Besitz der erforderlichen Berechtigung zu sein. Denn diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass die aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurückdrängt (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002, a.a.O., Rn. 22; Hess. VGH, a.a.O., Rn. 4). Durch das nachträgliche Entstehen einer grundgesetzlich geschützten Lebensgemeinschaft ist trotz des Verstoßes des Klägers gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen eine neue Situation entstanden. Diese verlangt von der Ausländerbehörde aufzuzeigen, durch welches verfassungsrechtlich beachtliche überwiegende Interesse eine Entfernung des Kindsvaters aus dem Bundesgebiet angezeigt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31 .08.1999, Az. 2 BvR 1523/99, NVwZ 2000, 59 (60)). Dass die Ausländerbehörde selbst von keinem überwiegenden verfassungsrechtlichen Interesse in diesem Sinne ausgeht, folgt daraus, dass sie dem Kläger unter Verweis auf die grundrechtlich geschützte Familiensituation unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides eine Duldung erteilt hat. [...]