VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.02.2019 - 11 S 1646/18 - asyl.net: M27042
https://www.asyl.net/rsdb/M27042
Leitsatz:

Zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt für die Verfestigung des Aufenthaltsrechts:

"Die persönlichen Anwendungsbereiche der Anspruchsgrundlagen nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und nach § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG sind nicht anhand des Eintritts der Volljährigkeit eines Antragstellers voneinander abzugrenzen, sondern anhand des Zeitpunkts, zu dem der Mindestzeitraum von fünf Jahren vervollständigt worden ist (Anschluss an OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.03.2018 - OVG 12 B 11.17 -, juris; Fortführung von VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10.02.1993 - 11 S 2532/92 -, juris)."

(Amtliche Leitsätze, anders inzwischen BVerwG, Urteil vom 15.08.2019 - 1 C 23.18 - asyl.net: M27652)

Schlagwörter: eigenständiges Aufenthaltsrecht, Kindernachzug, Aufenthaltsdauer, Beurteilungszeitpunkt, Niederlassungserlaubnis, besondere Erteilungsvoraussetzungen, Volljährigkeit,
Normen: AufenthG § 35 Abs. 1 , AufenthG § 35 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Zwar kann die Antragsgegnerin bei vordergründiger Betrachtungsweise den Wortlaut des § 35 Abs. 1 AufenthG für ihre Auffassung in Anspruch nehmen, der in Satz 1 von "einem minderjährigen Ausländer" und in Satz 2 Nr. 1 davon spricht, dass "der Ausländer volljährig" ist. Die dadurch nahegelegte Abgrenzung der persönlichen Anwendungsbereiche von § 35 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG allein nach dem Kriterium der Volljährigkeit lässt aber offen, auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist; der Wortlaut verhält sich hierzu nicht. Auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung oder wahlweise des Ablaufs der letzten (befristeten) Aufenthaltserlaubnis kann es für die Abgrenzung der Anwendungsbereiche zumindest in Fällen wie dem vorliegenden aber nicht ankommen, in denen die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bei Vollendung des 16. Lebensjahres erfüllt waren und der Antrag noch vor Erreichen der Volljährigkeit gestellt worden ist.

Denn dies widerspräche zunächst dem Zweck der Vorschrift, in der der Gesetzgeber mit Bedacht ein gestaffeltes System der Aufenthaltsverfestigung für ausländische Kinder vorgesehen hat: § 35 Abs. 1 AufenthG begünstigt Antragsteller, die als Minderjährige eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erhalten haben. Dies beruht auf der Erwägung, dass bei ausländischen Kindern mit langjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet regelmäßig da-von auszugehen ist, dass sie sich weitgehend in die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Ordnung der Bundesrepublik eingefügt haben (vgl. Dienelt, in: Bergmann/ders., AuslR, 12. Auflage 2018, § 35 AufenthG Rn. 2 und 5). Die Niederlassungserlaubnis ist deshalb abweichend von den Erfordernissen des § 9 Abs. 2 AufenthG maßgeblich an die längere Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet geknüpft, die in einem bestimmten Alter zurückgelegt wurde (vgl. Marx, in: GK-AufenthG, 90. Lieferung, Oktober 2017, § 35 Rn. 2 (m.w.N. aus dem Gesetzgebungsverfahren)). Dabei ist zwischen den beiden Anspruchsgrundlagen nach § 35 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AufenthG zu unterscheiden. Aus der gesetzgeberischen Konzeption folgt, dass die persönlichen Anwendungsbereiche dieser Anspruchsgrundlagen - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - nicht anhand des Alters eines Antragstellers abzugrenzen sind, so dass mit Erreichen der Volljährigkeit stets (nur noch) § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG anzuwenden wäre, sondern anhand des Zeitpunkts, zu dem der Mindestzeitraum von fünf Jahren vervollständigt worden ist (vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.03.2018 - OVG 12 B 11.17 -, juris, Rn. 25 ff.):

Nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers soll bei ausländischen Kindern, die im Zeitpunkt der Vollendung ihres 16. Lebensjahres seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet leben und über eine Aufenthaltserlaubnis verfügen, regelmäßig davon ausgegangen werden können, dass sie sich bereits sehr weitgehend in die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eingefügt haben (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-Drs. 15/420, S. 83 f.). Sie werden deshalb durch § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in besonderer Weise privilegiert. Insbesondere führt eine fehlende Sicherung des Lebensunterhalts bei diesem Personenkreis (nur) dazu, dass an die Stelle des Erteilungsanspruchs ein Ermessen nach dem Regelungsregime des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 AufenthG tritt (s.o.). An dem genannten Grund für die Privilegierung indes ändert sich nichts dadurch, dass ein Antragsteller - etwa während eines womöglich länger an-dauernden behördlichen Erteilungsverfahrens - schließlich volljährig wird.

Wenn § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG demgegenüber die (weniger) privilegierte Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auch an volljährig gewordene Kinder vorsieht, erfasst diese Vorschrift, wie sich aus der systematischen Zusammenschau mit Satz 1 und dem dargestellten Zweck des gestuften Regelungskonzepts ergibt, nur diejenigen Fälle, in denen eine schon während der Minderjährigkeit erteilte Aufenthaltserlaubnis wegen Ablaufs des Fünfjahreszeitraums erst nach Eintritt der Volljährigkeit zu einem Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis führt (vgl. BVerwG, Urteile vom 10.11.2009 - 1 C 24.08 -, juris, Rn. 24, und vom 13.09.2011 - 1 C 17.10 -, juris, Rn. 22; Dienelt, in: Bergmann/ders., AuslR, 12. Auflage 2018, § 35 Rn. 11). Der persönliche Anwendungsbereich dieser Anspruchsgrundlage erstreckt sich demnach auf volljährig gewordene ausländische Kinder, die erst so spät in das Bundesgebiet nachgezogen sind, dass sie bei Vollendung des 16. Lebensjahres noch nicht die erforderliche Aufenthaltsdauer von fünf Jahren erfüllten, bei denen dieser Tatbestand vielmehr erst bis zur Volljährigkeit oder sogar - je nach dem Zeitpunkt der Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis - noch später eingetreten ist. Nur bei diesen Kindern ist die Vermutung einer weitgehenden Eingliederung in die hiesigen Lebensverhältnisse weniger begründet, weil sie einen längeren Teil ihrer jugendlichen Entwicklung im Ausland verbracht haben. Deshalb stellt der Gesetzgeber an diese Gruppe volljähriger Antragsteller, die wegen ihres späten Nachzugs nicht schon von § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfasst werden, typisierend gesteigerte Anforderungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.03.2018 - OVG 12 B 11.17 -, juris, Rn. 26). [...]