VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 28.02.2019 - 7 A 49/17 HAL - asyl.net: M27093
https://www.asyl.net/rsdb/M27093
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Palästinenser aus dem Gaza-Streifen, der als Grafikdesigner u.a. für Frauenverbände gearbeitet hat und deshalb von der Hamas verfolgt wurde.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Gaza, Hamas, Palästinensische Gebiete, Palästinenser, politische Verfolgung, Berufsgruppe, Künstler, Grafiker, Frauen, gesteigertes Vorbringen, Glaubwürdigkeit,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger wird, davon ist das Gericht überzeugt, eine von der Hamas gegen sie gerichtete abweichende Einstellung im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben. Bei dieser abweichenden Einstellung handelt es sich um eine politische Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, als Grafikdesigner für Frauenverbände und die Fatah gearbeitet zu haben. Für die Hamas sind Personen, die Frauenverbände tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, ein Feindbild. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist die Hamas gegen die Stellung der Frauen in der Öffentlichkeit, das verstößt nach Ansicht der Hamas gegen islamische Sitten. Die Hamas hat im Gazastreifen eine Moralpolizei eingerichtet, die in ziviler Kleidung patrouilliert und routinemäßig die Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit durchsetzt. Außerdem bestraft sie Frauen, die auf Motorrädern fahren, Wasserpfeife oder Zigaretten rauchen, ihre Haare unbedeckt lassen oder sich "unpassend" kleiden, zum Beispiel im westlichen Stil (Jeans, T-Shirt etc.) oder generell körperbetonte Kleidung tragen. Sich in Hosen und ohne Kopfbedeckung zu zeigen, kann dazu führen, dass Frauen - nicht nur von Männern - angepöbelt und beschimpft beschimpft werden. Vielfach ist es für Frauen auch nicht möglich, das Haus ohne männliche Begleitung zu verlassen. Das Rechtssystem im Gazastreifen gewährleistet nur wenig Schutz vor Belästigung und Diskriminierung von Frauen. Palästinensische Gesetze und soziale Normen, teilweise aus der Scharia stammend, benachteiligen Frauen in den Bereichen Heirat, Scheidung und Erbrecht. Im Gazastreifen sind Frauen zumeist von Führungspositionen innerhalb der Hamas ausgeschlossen und bei öffentlichen politischen Versammlungen abwesend (BFA, Palästinensische Gebiete - Gaza, 12. September 2018, Seite 22). Überdies sieht die Hamas wohl auch in Personen, die für die Fatah arbeiten, einen politischen Gegner. Die Hamas hat 2006 bei Parlamentswahlen gesiegt und ein Jahr später gewaltsam die Kontrolle des Gazastreifens übernommen. Seitdem gab es keine neuen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen mehr. Auch wenn am 12. Oktober 2017 ein drittes Versöhnungsabkommen zwischen der Fatah und der Hamas, den beiden wichtigsten politischen Bewegungen in Palästina, in Kairo unterzeichnet wurde, so blieben dennoch bis heute Versöhnungs- und Wiedervereinigungsversuche weiterhin erfolglos. Die Hamas regiert de facto weiterhin Gaza (BFA, Palästinensische Gebiete - Gaza, 12. September 2018, Seite 6 f.).

Bei der Hamas handelt es sich um nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG. Sie besitzt das Gewaltmonopol im Gazastreifen. Ihr ist asylrechtlich erhebliche Verfolgungsfähigkeit hinsichtlich der dort aufhältigen Bevölkerung beizumessen (OVG Niedersachsen, Urteil vom 26. Januar 2012 - 11 LB 97/11 -, juris). Israel, die EU und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (BFA, Palästinensische Gebiete - Gaza, 12. September 2018, Seite 8).

Da der Kläger glaubhaft dargelegt hat, dass er vorverfolgt ausgereist ist, wird gemäß Artikel 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie vermutet, dass ihm im Falle der Rückkehr in den Gazastreifen ein ernsthafter Schaden droht. Anhaltspunkte, die die Vermutung widerlegen, sind nicht ersichtlich. Wie bereits ausgeführt, regieren die Verfolger des Klägers - die Hamas - de facto weiterhin Gaza. Die Flucht vor der Zusammenarbeit mit der Hamas stellt einen Akt des Widerstands durch den Kläger dar. Im Falle der Rückkehr muss er deswegen damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden; ihm drohen Tod oder körperliche Gewalt. Aufgrund der vom Kläger beigebrachten Vorladungen des Ministeriums des Inneren und der Nationalen Sicherheit vom 21. Januar 2015, 15. März 2015 und 1. Juni 2015, nach denen sich der Kläger am 15. März 2015 und am 02. Juni 2015 im Justizgebäude wegen eines wichtigen, dort anhängigen Sachverhalts habe melden sollen, ist ebenfalls beachtlich wahrscheinlich, dass er bei einer Rückkehr einer Verfolgung durch die Hamas ausgesetzt ist.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 31. Januar 2019, Israel: Reise- und Sicherheitshinweise (Reisewarnung für den Gazastreifen) steht dem Kläger auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3a AsylG offen. [...]