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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 05.03.2019 - 2 BvR 12/19 - asyl.net: M27112
https://www.asyl.net/rsdb/M27112
Leitsatz:

Mitwirkungspflicht bei einer Betreibensaufforderung durch das Verwaltungsgericht im Asylverfahren:

1. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts, das Verfahren wegen "Nichtbetreibens" einzustellen, ist nicht unanfechtbar. Er ist mit dem Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens anzugreifen. Auf diesen Antrag hin ergeht eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid oder Urteil, welche mit dem Rechtsmittel des Antrags auf Berufungszulassung angegriffen werden kann. Die gegen den Einstellungsbeschluss erhobene Verfassungsbeschwerde ist daher wegen des Grundsatzes des Subsidiarität unzulässig.

2. Die Verfassungsbeschwerde wäre im Übrigen wegen einer Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 Abs. 4 GG, und des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1, begründet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Verwaltungsgericht, Verfassungsbeschwerde, Mitwirkungspflicht, Betreibensaufforderung, Nichtbetreiben des Verfahrens, Einstellung, Subsidiarität,
Normen: AsylG § 81, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 103 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Durch die Handhabung des § 81 Satz 1 AsylG im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht die Anforderungen an die prozessuale Mitwirkung der Beschwerdeführer unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG offenkundig überspannt. Es bestand schon kein hinreichender Anlass, eine Betreibensaufforderung zu erlassen. Indem der Beschwerdeführer zu 1. am 11. Mai 2018 bei dem Verwaltungsgericht vorgesprochen, dort Unterlagen zur Begründung der Klage eingereicht und zugleich mitgeteilt hatte, er werde die Klage mit Hilfe eines Rechtsanwalts weiter begründen, hat er hinreichend deutlich sein Interesse an der Fortführung des Verfahrens zum Ausdruck gebracht. Vor diesem Hintergrund stellt die Einstellung des Verfahrens nach Erlass der Betreibensaufforderung und Ablauf der Monatsfrist einen groben Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dar. Hinzu kommt, dass sich innerhalb der durch die Aufforderung gesetzten Betreibensfrist der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführer bestellt und auch Akteneinsicht beantragt hat. Jedenfalls in diesem Stadium des Verfahrens hat er hierdurch hinreichend zu erkennen gegeben, dass die Beschwerdeführer an der Fortführung des Klageverfahrens interessiert waren. Durch die dennoch erfolgte Verfahrenseinstellung hat sich das Verwaltungsgericht auch in Widerspruch dazu gesetzt, dass es noch am letzten Tag der Betreibensfrist dem Prozessbevollmächtigten die Verfahrensakten zur Einsicht übersandt hat, allerdings ohne auf die Betreibensfrist hinzuweisen. Auch der Umstand, dass die Beschwerdeführer nicht alle der vom Verwaltungsgericht mit Schreiben vom 3. Mai 2018 gestellten Fragen innerhalb der Frist beantwortet hatten, vermag Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses nicht zu rechtfertigen.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unzulässig, da ihr der Grundsatz der Subsidiarität entgegensteht (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 134, 106 <115>; 134, 242 <285>; stRspr). Der Funktion der Verfassungsbeschwerde würde es zuwiderlaufen, sie anstelle oder gleichsam wahlweise neben einem möglicherweise statthaften Rechtsmittel zuzulassen (vgl. BVerfGE 1, 5 <6>; 1, 97 <103>). Es ist daher geboten und einem Beschwerdeführer auch zumutbar, vor der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde die Statthaftigkeit weiterer einfachrechtlicher Rechtsbehelfe zu prüfen und von ihnen auch Gebrauch zu machen, wenn sie nicht offensichtlich unzulässig sind (vgl. BVerfGE 28, 1 <6>). Es ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, über Zulässigkeitsfragen nach einfachem Recht unter Berücksichtigung der hierzu vertretenen Rechtsansichten zu entscheiden (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 68, 376 <381>). Wird das Rechtsmittel als unzulässig verworfen, weil die Gerichte die Zulässigkeitsfrage zu Ungunsten eines Beschwerdeführers beurteilen, bleibt es ihm unbenommen, nach Ergehen einer letztinstanzlichen Entscheidung innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG Verfassungsbeschwerde einzulegen und etwaige Grundrechtsverletzungen durch eine vorangegangene Sachentscheidung zu rügen (vgl. BVerfGE 68, 376 <381>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2000 - 2 BvR 1295/98 -, juris, Rn. 5). Die Beschwerdeführer hätten gegen den in dem Verfahren (7 K 1632/18.A) ergangenen Beschluss vom 10. September 2018, mit dem das Verwaltungsgericht ihren (auch) gestellten Antrag auf Fortführung des Verfahrens abgelehnt hat, einen Antrag auf Zulassung der Berufung gemäß § 78 Abs. 2 bis 4 AsylG stellen können und können dies auch derzeit noch tun.

Macht ein Kläger eines asylrechtlichen Klageverfahrens geltend, die Fiktion der Klagerücknahme gemäß § 81 Satz 1 AsylG sei nicht eingetreten - sei es weil die Betreibensaufforderung zu Unrecht ergangen sei, sei es weil er das Verfahren innerhalb der Monatsfrist betrieben habe -, kann er nach verbreiteter Auffassung die Fortsetzung des Verfahrens beantragen (vgl. zu § 81 AsylVfG: BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 - 9 C 48.84 -, juris, Rn. 14; Beschluss vom 23. August 1984 - 9 CB 48.84 -, juris, Rn. 3; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Bd. 3, § 81, Rn. 43 ff. <Februar 2011>; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 81 AsylG Rn. 21; Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 4, § 81 AsylVfG Rn. 30 <Juni 2011>; zu § 92 Abs. 2 VwGO, der auf § 81 AsylVfG beruht: Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Bd. II, § 92 Rn. 77 <Oktober 2014>; Peters/Axer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 92 Rn. 85 ff.; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser /Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 92 Rn. 20 und 30; daran anknüpfend die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde wegen fehlender Rechtswegerschöpfung bzw. Subsidiarität verneinend: BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2000 - 2 BvR 1295/98 -, juris, Rn. 4 ff.; vom 22. Oktober 1997 - 2 BvR 226/97 -, juris, Rn. 3 und vom 9. Februar 1994 - 2 BvR 21/94 -, juris, Rn. 1).

Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass das Verfahren durch fiktive Klagerücknahme beendet ist, spricht es dies durch Urteil - oder Gerichtsbescheid - aus (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Bd. 3, § 81 Rn. 48 <Februar 2011>; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 81 AsylG Rn. 21; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Bd. II, § 92 Rn. 78 <Oktober 2014>; Peters/Axer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 92 Rn. 88 f.). Die Entscheidung, mit der die Beendigung des Verfahrens festgestellt wird, ist mit denselben Rechtsmitteln angreifbar, die gegen die Entscheidung in der Sache selbst gegeben wären (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 81 AsylG Rn. 25; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Bd. II, § 92 Rn. 81 <Oktober 2014>; Peters/Axer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 92 Rn. 90).

Entscheidet das Gericht fehlerhaft durch Beschluss, kann dasjenige Rechtsmittel eingelegt werden, das bei einer in verfahrensrechtlich zutreffender Form ergangenen Entscheidung gegeben wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 - 9 C 48.84 -, juris, Rn. 14, und Beschluss vom 23. August 1984 - 9 CB 48.84 -, juris, Rn. 3; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Bd. 3, § 81 Rn. 44 <Februar 2011>; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 81 AsylG Rn. 25; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Bd. II, § 92 Rn. 81 <Oktober 2014>; Peters/Axer, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 92 Rn. 90).

Davon ausgehend wäre gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 10. September 2018 - 7 K 1632/18.A - der Antrag auf Zulassung der Berufung gemäß § 78 Abs. 2 bis 4 AsylG gegeben. Dieser wäre auch nicht offensichtlich ohne Aussicht auf Erfolg. Denn eine fehlerhafte Bejahung der Wirksamkeit einer fiktiven Klagerücknahme gemäß § 81 Satz 1 AsylG verletzt - neben Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG - zugleich den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil sich das Gericht zu Unrecht nicht mit der Sache selbst befasst hat. Eine entsprechende Verfahrensrüge gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG in Verbindung mit § 138 Nr. 3, § 108 Abs. 2 VwGO wird daher regelmäßig Erfolg haben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 - 8 B 119.00 -, juris, Rn. 2; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Bd. II, § 92 Rn. 81 <Oktober 2014>).

Der Zulassungsantrag ist vorliegend auch nicht verfristet, weil wegen der fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung im Beschluss vom 10. September 2018 - 7 K 1632/18.A - "Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG)" - nicht die Monatsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG, sondern die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO gilt. [...]