OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 08.03.2019 - 2 M 148/18 - asyl.net: M27113
https://www.asyl.net/rsdb/M27113
Leitsatz:

Titelerteilungssperre wegen Asylantrag greift nicht bei Verlängerung eines Aufenthaltstitels:

1. Ein Aufenthaltstitel kann entgegen der Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 AufenthG auch dann verlängert werden, wenn ein Asylantrag unanfechtbar abgelehnt wurde, da die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 2 AufenthG bei Titelverlängerungen greift.

2. Für die Verlängerung gelten dann allein die (sonstigen) Vorschriften des AufenthG, sodass weder aus einer gebundenen Entscheidung über § 10 Abs. 2 AufenthG eine Ermessensentscheidung wird, noch bei einer Ermessensentscheidung die Stellung bzw. unanfechtbare Ablehnung eines Asylantrags berücksichtigt werden darf. Auch von der Erteilungsvoraussetzung des Visumsverfahrens gem. § 5 Abs. 2 AufenthG ist dann abzusehen, da § 39 Nr. 1 AufenthV einschlägig ist.

3. Ein Rechtsschutzinteresse am Eilrechtsschutz ist trotz Vorliegens einer Duldung gem § 60a Abs. 4 AufenthG gegeben, da die gerichtlich angeordnete aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den die Titelverlängerung ablehnenden Bescheid der betroffenen Person eine günstigere Rechtsposition vermittelt. Denn die Erteilung einer Duldung stellt als Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung lediglich einen vorübergehenden tatsächlichen, nicht aber einen rechtlichen Schutz dar. Die vom Gericht angeordnete aufschiebenden Wirkung führt hingegen zum Ausschluss der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht sowie zur beschränkten Fiktion des Fortbestehens des bisherigen Aufenthaltstitels bezüglich der Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit gem. § 84 Abs. 2 S. 2 AufenthG. Zudem finden die Regelungen über die Wohnsitzauflage aus § 61 Abs. 1d AufenthG dann keine Anwendung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Widerspruch, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Rechtsschutzbedürfnis, Duldung, Fortgeltungsfiktion, Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, Titelerteilungssperre, Asylverfahren, offensichtlich unbegründet, Fiktionswirkung, Erwerbstätigkeit, Ermessen, Visumsverfahren, Suspensiveffekt, Ausreisepflicht, Asylantrag, Aufenthaltstitel,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 10 Abs. 2, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 3, AufenthG § 5 Abs. 2, AufenthV § 39 Nr. 1, AufenthG § 84 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 81 Abs. 4, AufenthG § 60a Abs. 4, AufenthG § 4 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 27 Abs. 5, AufenthG § 4 Abs. 3 S. 3, BeschV § 32, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

a) Dem Antragsteller fehlt nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. [...] Das Rechtsschutzbedürfnis ist schon deshalb zu bejahen, weil sich die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nur auf dem Weg über die begehrte gerichtliche Entscheidung herstellen lässt und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs dem Antragsteller auf jeden Fall eine günstigere Rechtsposition vermittelt.

Der Antragsteller hat ein berechtigtes Interesse daran, vor einer sonst möglichen Vollziehung der Ausreisepflicht durch Abschiebung auch rechtlich durch Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs - und nicht nur tatsächlich durch Erteilung von Duldungen seitens der Antragsgegnerin - geschützt zu sein (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13:09.2011 - VR 1/11 juris Rd Nr. 8). Die rechtliche Stellung des Antragstellers würde sich durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin verbessern. Zwar würde damit die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht wiederhergestellt, denn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung .des Widerspruchs lässt gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG die Wirksamkeit des Ablehnungsbescheids, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt und damit auch das Erlöschen der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG (vgl. Beschl. d. Senats v. 22.05.2017 - 2 M 39/17 - juris RdNr. 17). Folge einer vom Gericht angeordneten aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs wäre jedoch der Ausschluss der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht i.S.d. § 50 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 2 Satz 2 und § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (vgl. OVG BBg, Beschl. v. 23.09.2016 - OVG 11.S 27.16 -, a.a.O. RdNr. 2; Samel; in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. § 58 AufenthG RdNr. 15). Demgegenüber ist die dem Antragsteller erteilte Duldung lediglich eine Maßnahme in der Verwaltungsvollstreckung. Sie setzt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraus und lässt diese unberührt. Die Aussetzung der Abschiebung unter Ausstellung einer Bescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG verleiht dem Duldungsinhaber nur einen vorübergehenden Schutz bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die eine Abschiebung hindernden Umstände nicht mehr gegeben sind (vgl. Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O. § 60a AufenthG RdNr. 3).

Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers ergibt sich auch daraus, dass nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für Zwecke der Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel, den der Antragsteller besaß, als fortbestehend gilt, solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Diese beschränkte Fiktion des Fortbestehens des bisherigen Aufenthaltstitels nach § 84 Abs. 2 Satz.2 AufenthG vermittelt dem Antragsteller in Bezug auf seine Erwerbstätigkeit einen besseren Schutz als die antragsabhängige Erteilung befristeter Duldungen durch die Antragsgegnerin (vgl. BVerwG; Beschl. v. 13.09.2011 - 1 VR 1/11 -, a.a.O. RdNr. 8). [...]

Weiterhin weist der Antragsteller zutreffend darauf hin, dass sich sein Status bei Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs auch im Hinblick auf eine mögliche Wohnsitzauflage verbessern würde. [...]

Zu Unrecht meint die Antragsgegnerin, das Rechtsschutzbedürfnis fehle deshalb weil sich der Ablehnungsbescheid in tatsächlicher Hinsicht nicht negativ auf die konkreten Lebensumstände des Antragstellers auswirke. Damit überspannt die Antragsgegnerin die Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis. Dieses fehlt - wie ausgeführt - nur dann, wenn eine gerichtliche Entscheidung von vornherein nutzlos ist, weil sie nicht geeignet ist, die subjektive Rechtsstellung des Antragstellers zu verbessern. Davon kann hier keine Rede sein. [...]

2. Der Antrag ist auch begründet. Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Antragstellers, von der Durchsetzung der gegen ihn ergangenen ausländerbehördlichen Verfügung verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Verfügung überwiegt. Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.07.2018 ist bei summarischer Prüfung rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten. Der Antragsteller dürfte gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis haben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

a) Die besonderen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 8 Abs. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sind bei dem Antragsteller nach wie vor gegeben. Das stellt auch die Antragsgegnerin nicht in Frage.

b) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin stehen die Regelungen des § 10 Abs. Satz 1 und 2 AufenthG dem Anspruch des Antragstellers nicht entgegen. Nach diesen Vorschriften darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist oder der seinen Asylantrag zurückgenommen hat, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 erteilt werden. Sofern der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nummer 1 bis 6 des Asylgesetzes abgelehnt wurde, darf vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Diese Regelungen sind vorliegend nicht anwendbar, da die Ausnahme des § 10 Abs. 2 AufenthG eingreift. Nach dieser Vorschrift kann ein nach der Einreise des Ausländers von der Ausländerbehörde erteilter oder verlängerter Aufenthaltstitel nach den Vorschriften dieses Gesetzes ungeachtet des Umstandes verlängert werden, dass der Ausländer einen Asylantrag gestellt hat. Die Vorschrift gilt auch für den Fall, dass der Asylantrag des Ausländers unanfechtbar abgelehnt worden ist, also auch für die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG (vgl. Beschl. d. Senats v. 16.09.2009 - 2 L 118/08 -, juris Rdnr. 37; OVG BBg., Beschl. v. 13.07.2017 - OVG 11 S 94.16 -, juris RdNr. 3; Discher, in GK AufenthG, Stand: Juli 2014, § 10 AufenthG RdNr. 89; Müller in: Hofmann, Ausländerrecht 2. Aufl., § 10 AufenthG RdNr. 17; a.A. NdsOVG, Beschl. v. 26.07.2012 - ME 252/07 , juris RdNr. 7; VG Hamburg, Urt. v. 19.01.2000 - 10 K 2174/08 juris RdNr. 41; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Dezember 2008, § 10 AufenthG RdNr. 20). Dies ergibt sich bei einer an Sinn und Zweck der Vorschriften orientierten Auslegung. Die Titelerteilungssperren des § 10 Abs. 1 und 3 AufenthG sollen dem Missbrauch des Asylverfahrens zu asylverfahrensfremden Zwecken entgegenwirken. Es soll grundsätzlich keine Möglichkeit geben, im Wege eines unbegründeten Asylbegehrens einen längerfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erlangen (vgl. Discher, a.a.O. § 10 AufenthG RdNr. 89.2). Dieser Zweck entfällt jedoch bei der Verlängerung eines nach der Einreise des Ausländers von der Ausländerbehörde erteilten oder verlängerten Aufenthaltstitels. Hier beruht der Aufenthalt nicht mehr auf der,Asylantragstellung, sondern auf einer nach der Einreise getroffenen aufenthaltsrechtlichen Entscheidung (vgl. Discher, a.a.O., § 10, AufenthG RdNr. 89.2, Müller, a.a.O., § 10 AufenthG RdNr. 17). Dies gilt auch dann, wenn der Aufenthaltstitel nach der Asylantragstellung bzw. nach Abschluss des Asylverfahrens erteilt oder verlängert worden ist. Soweit der Aufenthaltstitel unter Missachtung der Einreisebestimmungen erteilt worden sein sollte, bleibt die Möglichkeit der Rücknahme des Aufenthaltstitels nach § 48 VwVfG (vgl. Discher, a.a.O., § 10 AufenthG RdNr. 94). Andernfalls könnten die Titelerteilungssperren des § 10 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG dem Ausländer auch nach (mehrfacher) Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis und damit nach Jahren eines rechtmäßigen Aufenthalts immer noch entgegengehalten werden. Hiernach steht der Umstand, dass der Asylantrag des Antragstellers mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.05.2014 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen.

Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist auch rechtswidrig, soweit die Antragsgegnerin diese (hilfsweise) im Rahmen einer "Ermessensentscheidung" nach § 10 Abs. AufenthG darauf gestützt hat, dass der Landkreis Anhalt-Bitterfeld die Vorgaben des § 10 Abs. 3 AufenthG bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis offensichtlich nicht beachtet habe. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ergibt sich aus § 10 Abs. 2 AufenthG bei der Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis kein Ermessensspielraum der Ausländerbehörde. Die Vorschrift des § 10 Abs. 2 AufenthG enthält eine zwingende Ausnahme von § 10 Abs. 1 und § 10 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG (vgl. Discher, a.a.O., § 10 RdNr. 1.4). Das bedeutet, dass bei der Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 10 Abs. 2 AufenthG der Umstand, dass der Ausländer einen Asylantrag gestellt hat bzw. dass dieser unanfechtbar abgelehnt worden ist, unbeachtlich ist. Die Entscheidung über die Verlängerung hat allein nach den (sonstigen) Vorschriften des AufenthG zu erfolgen. Aus einer gebundenen Entscheidung über den Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis wird damit nicht nach § 10 Abs. 2 AufenthG eine Ermessensentscheidung. Auch soweit die Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltstitels nach den Vorschriften des AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde steht, ist der Umstand, dass der Ausländer einen Asylantrag gestellt hat bzw. dass dieser unanfechtbar abgelehnt worden ist, außer Betracht zu lassen.

c) Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Antragsteller ohne das erforderliche Visum in das Bundesgebiet eingereist und deshalb die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG nicht erfüllt ist. Im vorliegenden Fall ist das Visumverfahren gemäß § 39 Nr. 1 AufenthV entbehrlich. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer u.a dann einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, wenn er eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Der Ausländer muss im Zeitpunkt der Antragstellung lediglich eine gültige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können. Soweit die Ausnahmetatbestände des § 39 AufenthV erfüllt sind, ist § 5 Abs. 2 AufenthG unanwendbar. [...]