VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Beschluss vom 06.02.2019 - A 14 K 221/19 - asyl.net: M27133
https://www.asyl.net/rsdb/M27133
Leitsatz:

1. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG (juris: AsylVfG 1992) (Rn.4).

2. Die Ablehnung nach § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG (juris: AsylVfG 1992) setzt voraus, dass dem Ausländer objek­tiv eine Aufenthaltsbeendigung droht, er subjektiv hiervon Kenntnis hat und den Asylantrag zum Zeitpunkt der Antragstellung zu dem Zweck einsetzt, die drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden (Rn.9).

3. Die Ablehnung nach § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG (juris: AsylVfG 1992) setzt voraus, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über das Vorliegen der unter 2. genannten Voraussetzungen verlässliche tatsächliche Feststellungen trifft und darlegt (Rn.15).

4. Bei der Feststellung, ob der Ausländer zuvor ausreichend Gelegenheit hatte, einen Asylantrag zu stellen, ist auch zu berücksichtigen, ob er zuvor subjektiv Anlass hatte, einen Asylantrag zu stellen. Dieser Anlass kann etwa bei einem anderweitig gesicherten Aufenthalt entfallen. Ferner ist zu berücksichtigen, ob es andere nachvollziehbare Gründe gibt, die den Ausländer davon abgehalten haben, seinen Asylantrag zu einem früheren Zeitpunkt zu stellen (Rn.10).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Asylantrag, aufenthaltsbeendende Maßnahmen,
Normen: AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 4
Auszüge:

[...]

9 a) An einer ausreichenden Gelegenheit, einen Asylantrag zu stellen, fehlt es nicht nur dann, wenn objektiv eine solche Gelegenheit nicht gegeben war. Vielmehr fehlt es an diesem Tatbestandsmerkmal nach überzeugender Ansicht in der Literatur auch dann, wenn der Ausländer wegen eines anderweitig gesicherten Status keine subjektive Veranlassung gesehen hat, zu einem früheren Zeitpunkt einen Asylantrag zu stellen, um Schutz vor der von ihm befürchteten Verfolgung zu erhalten (vgl. Heusch, in: BeckOK, Ausländerrecht, 20. Edition, Stand: 01.11.2018, § 30 AsylG Rn. 45; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 30 AsylG Rn. 15; Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113, Stand: 01.10.2017, § 30 AsylG Rn. 116). Denn neben der objektiven Gelegenheit ist auch ein hinreichender Anlass für eine frühere Asylantragstellung vorauszusetzen, um eine Obliegenheitsverletzung des Ausländers begründen zu können, die ihrerseits ein Offensichtlichkeitsurteil rechtfertigt. [...]

11 b) Ferner muss eine Aufenthaltsbeendigung drohen, um den Anwendungsbereich des § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG zu eröffnen. Dieses Tatbestandsmerkmal stellt einen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme her und verlangt eine zeitliche Nähe zwischen Antragstellung und der drohenden Durchführung der Aufenthaltsbeendigung. Es ist dabei umstritten, ob hinsichtlich der drohenden Aufenthaltsbeendigung allein die subjektive Absicht des Ausländers (so etwa Heusch, in: BeckOK, Ausländerrecht, 20. Edition, Stand: 01.11.2018, § 30 AsylG Rn. 46) oder objektive Kriterien (Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113, Stand: 01.10.2017, § 30 AsylG Rn. 109) maßgeblich sind. Die grammatikalische Auslegung spricht in Übereinstimmung mit Art. 31 Abs. 8 lit. g) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie) dafür, nicht (allein) auf die subjektive Vorstellung des Ausländers, sondern auf die Möglichkeit einer zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht und die konkretisierte Absicht der für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörde, aufenthaltsbeendende Maßnahmen in naher Zukunft zu ergreifen (Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113, Stand: 01.10.2017, § 30 AsylG Rn. 109), abzustellen.

12 Der Wortlaut der Norm stellt mit der Wendung "um eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden", eine subjektive Mittel-Zweck-Relation allein zwischen der Asylantragstellung und der Abwendung einer drohenden Aufenthaltsbeendigung her. Die Aufenthaltsbeendigung, die der Ausländer mit seiner Asylantragstellung abwenden will, muss drohen. Hätte der Gesetzgeber auch hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung auf die subjektive Sicht des Ausländers abstellen wollen, hätte es nahe gelegen, das Adjektiv "befürchtete" oder die Wendung "aus Furcht vor einer Aufenthaltsbeendigung" zu verwenden. § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG geht zudem auf Art. 31 Abs. 8 lit. g) Asylverfahrensrichtlinie zurück. Dieser bestimmt, dass die Mitgliedstaaten festlegen können, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien der Asylverfahrensrichtlinie beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Art. 43 Asylverfahrensrichtlinie durchgeführt wird, wenn

13 "der Antragsteller den Antrag nur zur Verzögerung oder Behinderung der Vollstreckung einer bereits getroffenen oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung stellt, die zu seiner Abschiebung führen würde" (Hervorhebung durch das Gericht).

14 Die Asylverfahrensrichtlinie geht also davon aus, dass die Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Entscheidung oder deren unmittelbares Bevorstehen Voraussetzung für eine beschleunigte Durchführung des Asylverfahrens ist. Diese Voraussetzung kann nur nach objektiven Kriterien bestimmt werden. Die grammatikalische Auslegung stimmt daher mit der maßgeblichen Bestimmung der Asylverfahrensrichtlinie überein. Schließlich spricht für dieses Auslegungsergebnis die exekutive Praktikabilität und die gerichtliche Überprüfbarkeit, weil die subjektive Vorstellung des Ausländers darüber, ob ihm eine Aufenthaltsbeendigung droht, naturgemäß nur schwer oder gar nicht feststellbar ist.

15 Die Antragsgegnerin kann ferner von § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG nur dann Gebrauch machen, wenn sie zuverlässige Feststellungen getroffen hat, dass der Asylantrag mit der Absicht gestellt worden ist, eine objektiv drohende Aufenthaltsbeendigung zu verhindern (vgl. Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113, Stand: 01.10.2017, § 30 AsylG Rn. 112; Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 30 Rn. 57). Sind keine Feststellungen dazu getroffen, ob dem Ausländer objektiv eine aufenthaltsbeendende Maßnahme droht und der Ausländer subjektiv auch Kenntnis von der Vorbereitung oder Einleitung einer solchen Maßnahme hat (zu diesem sog. intellektuellen Moment der Verhinderungsabsicht Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 113, Stand: 01.10.2017, § 30 AsylG Rn. 120), fehlt jegliche Grundlage für die Feststellung, der Asylantrag sei in der Absicht gestellt worden, eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden. [...]