VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 17.01.2019 - A 4 K 6178/16 - asyl.net: M27135
https://www.asyl.net/rsdb/M27135
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Zeugen Jehovas aus der Russischen Föderation:

"Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kann bei Zeugen Jehovas nach aktueller Lage hinsichtlich der Russischen Föderation auch dann in Betracht kommen, wenn der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland keiner konkreten individuellen Vorverfolgung ausgesetzt war."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Russische Föderation, Zeugen Jehovas, Vorverfolgung, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

30 Bestimmte religiöse Gruppen, so auch die Zeugen Jehovas, sind aufgrund ihres Glaubens zur Zielscheibe der russischen Behörden geworden. Man stützt sich hier vor allem auf das Extremismusgesetz (das sog. Yarovaya-Gesetz). Im Zuge dieser Extremismusgesetzgebung wurden u.a. auch p ivate religiöse Reden kriminalisiert und die Gesetzgebung genutzt, um religiöse Gruppen zu unterdrücken und wegen Extremismus zu bekämpfen. Seit Juli 2016 wurden über 100 religiöse Aktivisten mit Bußgeldern belegt, weil sie entweder ohne Genehmigung gepredigt hatten, oder religiöse Literatur ohne Anführen des Namens des Betreibers verteilten. Am 20.04.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wird beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden. Zeugen Jehovas, die sich weiter zu ihren Überzeugungen bekannten, mussten mit Strafverfolgung und Freiheitsstrafen von bis zu zwölf Jahren rechnen. Laufende Gerichtsverfahren beziehen sich etwa auf die staatliche Beschlagnahme von Eigentum der Religionsgemeinschaft oder die Diskreditierung ihrer Schriften als extremistische Literatur. Ende des Jahres 2017 waren einige Einrichtungen der Zeugen Jehovas konfisziert. Gläubige sollen sich laut Medienberichten bei der Ausübung ihrer Religion nunmehr in die Verborgenheit zurückziehen. Gewisses Aufsehen erregte in den vergangenen Monaten die Festnahme sowie das Verfahren gegen einen Zeugen Jehovas, der allerdings dänischer Staatsangehöriger ist. Die Zeugen Jehovas, Medien und NGOs berichten von diversen Festnahmen und Geldstrafen in Höhe von 100.000 Rubel (ca. 14.000 €). Zudem kam es zu einer Vielzahl von Gewalttaten durch Unbekannte gegenüber Anhängern der Zeugen Jehovas (Brandstiftung, Gewaltandrohungen, Vandalismus; vgl. zu alledem: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich – BFA –, Russische Föderation, Gesamtaktualisierung vom 31.08.2018, Seite 58 f., 61 f.).

31 Es besteht daher zumindest ein Verbot des organisatorischen Zusammenhalts der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation und ihrer gemeinschaftlichen Religionsausübung. Dieser Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung stellt seiner Intensität nach eine Verfolgung im Sinne von §§ 3, 3a AsylG dar, denn den Zeugen Jehovas wird verboten, ihren Glauben im privaten Bereich und unter sich zu bekennen und Gottesdienste abseits der Öffentlichkeit in privater Gemeinschaft mit ihren Glaubensgenossen zu halten (VG Hamburg, Urt. v. 27. Juni 2018 – 17 A 2777/18 –, juris Rn. 24).

32 Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass es den Klägern und Zeugen Jehovas nicht zugemutet werden kann, darauf zu vertrauen, dass im privaten Bereich abgehaltene Gottesdienste den russischen Behörden nicht bekannt werden würden. Denn es ist damit zu rechnen, dass die russischen Behörden auch von solchen Gottesdiensten Kenntnis erlangen, etwa durch Meldungen von Nachbarn (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 27. Juni 2018 – 17 A 2777/18 –, juris Rn. 24). [...]