VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2019 - 11 S 623/19 - asyl.net: M27151
https://www.asyl.net/rsdb/M27151
Leitsatz:

Duldung zur Pflege betreuungsbedürftier Angehöriger:

"1. Zu den formalen Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO an die Stellung eines bestimmten Antrags in der Begründung einer Beschwerde.

2. Im Falle einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern kommt es für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe auch von dritten, nicht der Familie angehörigen Personen erbracht werden kann. Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK ist in erster Linie entscheidend, dass der betreuungsbedürftigen Person überhaupt eine familiäre Betreuung ermöglicht wird (Fortführung von VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 05.07.1999 - 13 S 1101/99 - und vom 09.02.2004 - 11 S 1131/03 -, beide juris).

3. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet, die innerfamiliär getroffene Auswahlentscheidung, welcher Angehöriger ein auf Lebenshilfe angewiesenes Familienmitglied pflegt, grundsätzlich zu respektieren. Hieraus folgt allerdings kein uneingeschränktes Wahlrecht zwischen mehreren erwachsenen Angehörigen. Ob die Betreuung von der "Wunschperson" geleistet werden kann, hängt von einer Gewichtung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Einzelfall ab.

4. Entspricht die Auswahlentscheidung sowohl der besonderen Beistandspflicht von Verwandten in gerader Linie (hier: der Mutter gegenüber dem hilfebedürftigen Sohn) als auch der langjährigen Praxis innerhalb der Familie und sind keine Umstände dafür ersichtlich, dass sie vor allem deshalb getroffen worden ist, um der Pflegeperson ein Aufenthaltsrecht zu sichern, so ist es mit dem Schutzgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar, wenn der Staat seine Auswahlentscheidung an die Stelle der familienintern getroffenen Vereinbarung setzt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: familiäre Beistandsgemeinschaft, Aufenthaltserlaubnis, Pflegebedürftigkeit, Duldung, Unmöglichkeit der Ausreise, rechtliche Unmöglichkeit, Pflege,
Normen: GG Art.6 Abs.1, EMRK Art. 8 Abs. 1, VwGO § 146 Abs. 4 S. 3, § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG
Auszüge:

[...]

(1) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 05.06.2013 - 2 BvR 586/13 -, juris, Rn. 12 (m.w.N.)). Aus Art. 6 GG - und aus Art. 8 EMRK - ergeben sich aber aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen (vgl. hierzu und zum Folgenden nur BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris, Rn. 17 ff. (m.w.N.)). Diese Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen; entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, Beschluss vom 05.06.2013 - 2 BvR 586/13 -, juris Rn. 12). Der Schutz der Familie als solches kann insoweit eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung begründen, also ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis.

Bei erwachsenen Familienmitgliedern ergeben sich aus Art. 6 Abs. 1 GG insbesondere dann aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt. Unter diesen Voraussetzungen erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft. Kann der Beistand nur in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück. Auch im Falle einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern kommt es für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 27.08.2010 - 2 BvR 130/10 -, juris Rn. 44, vom 25.10.1995 - 2 BvR 901/95 -, juris Rn. 8, und vom 12.12.1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, S. 895 <896>; VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 09.02.2004 - 11 S 1131/03 -, juris Rn. 8, und vom 05.07.1999 - 13 S 1101/99 -, juris Rn. 8; Nds. OVG, Beschluss vom 05.03.2018 - 8 PA 5/18 -, juris Rn. 5; Thür. OVG, Beschluss vom 15.11.2002 - 3 EO 438/02 -, juris Rn. 21 f.; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25.05.2000 - 9 W 1/00 -, juris Rn. 14).

Die Pflegebedürftigkeit des auf Lebenshilfe angewiesenen Familienmitglieds ist für eine derartige Beistandsgemeinschaft keine notwendige Voraussetzung; entscheidend ist nur die Angewiesenheit auf Lebenshilfe auf Grund besonderer Umstände. Die Beistandsgemeinschaft muss auch nicht als Hausgemeinschaft gelebt werden, sondern kann ihre Funktion selbst dann erfüllen, wenn das Familienmitglied, das die Lebenshilfe erbringt, berufstätig ist und deshalb die Hilfe nur während seiner Freizeit leisten kann; dies bedeutet zugleich, dass dieses Familienmitglied zwar einzelne Pflegeleistungen, nicht aber die vollständige Betreuung eines Pflegebedürftigen erbringen muss, um eine familiäre Beistandsgemeinschaft bejahen zu können. Es kann in derartigen Fällen auch ausreichen, wenn das Familienmitglied etwa die regelmäßige Medikamenteneinnahme sicherstellt und als "psychische Stütze" sowie bei nächtlichen Notfällen zur Verfügung steht (vgl. zu alledem VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.07.1999 - 13 S 1101/99 -, juris Rn. 11 f.).

Insoweit gebietet Art. 6 Abs. 1 GG, die auf Autonomie angelegte Entscheidungsbefugnis der Familie grundsätzlich zu respektieren. Hieraus ist freilich nicht zu schließen, dass ein betreuungsbedürftiges Familienmitglied ein uneingeschränktes "absolutes" Wahlrecht zwischen mehreren betreuungsfähigen und -bereiten nahen erwachsenen Angehörigen hätte. Vielmehr ist das öffentliche Interesse an der Ausreise einzelner Familienmitglieder angemessen zur Geltung zu bringen und mit dem Auswahlinteresse des betreuungsbedürftigen Angehörigen und dem Bleibeinteresse des "ausgewählten" Ausländers abzuwägen. Denn im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK ist in erster Linie entscheidend, dass der betreuungsbedürftigen Person - neben einer möglicherweise notwendigen Betreuung von außerhalb - bei Bedarf überhaupt eine familiäre Betreuung ermöglicht wird. Ob die Betreuung im Einzelnen von der "Wunschperson" geleistet werden kann, hängt von einer Gewichtung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Einzelfall ab (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 09.02.2004 - 11 S 1131/03 -, juris Rn. 8; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, 79. Lieferung März 2015, § 60a Rn. 22). [...]