BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 06.02.2019 - 1 A 3.18; 1 VR 12.18 - asyl.net: M27162
https://www.asyl.net/rsdb/M27162
Leitsatz:

Abschiebungsanordnung gegen einen radikal-islamistischen Gefährder:

Eine terroristische Gefahr im Sinne des § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt eine unmittelbare räumliche Beziehung zwischen den terroristischen Aktivitäten und der Bundesrepublik Deutschland nicht voraus.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsanordnung, Gefährder, besondere Gefahr, terroristische Gefahr, Suspensiveffekt, Türkei, Anhörung, Heilung, Prognose, Gefahr,
Normen: ARB 1/80 Art. 7, AsylG § 4 Abs.1, AufenthG § 11, § 58a, EMRK Art. 3, EMRK Art. 8 Abs.1, GG Art. 6, VwVfG § 28,
Auszüge:

[...]

Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet, in den letzten Jahren zugenommen und sich seither rasch gewandelt haben. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Union im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3), dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) und Art. 3 der Richtlinie (EU) 2017/541 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates und zur Änderung des Beschlusses 2005/671/JI des Rates (ABl. L 88 S. 6) gewonnen werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und geeignet sind, die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - BVerwGE 159, 296 Rn. 22). Die Bedrohungen sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt. Sie gefährden die Sicherheitsinteressen der Staatengemeinschaft. Die Nationalstaaten sind aufgerufen, terroristischen Gruppen, die Möglichkeit zu verwehren, Wurzeln zu schlagen und sichere Zufluchtsorte zu schaffen (UN-Sicherheitsrat, Resolution 2178 <2014> vom 24. September 2014, S/RES/2178 <2014> S. 1). Eine akute und zunehmende Bedrohung geht von terroristischen Kämpfern, mithin von Personen aus, die in einen Staat reisen, der nicht der Staat der Ansässigkeit oder Staatsangehörigkeit ist, um terroristische Handlungen zu begehen, zu planen, vorzubereiten oder sich daran zu beteiligen oder Terroristen auszubilden oder sich zu Terroristen ausbilden zu lassen (UN-Sicherheitsrat, Resolution 2178 <2014> vom 24. September 2014, S/RES/2178 <2014> S. 2 und 5). Die Rückkehr terroristischer Kämpfer in Staaten ihrer Ansässigkeit oder Staatsangehörigkeit erhöht die Sicherheitsbedrohung weiter (Erwägungsgrund 4 Satz 3 der Richtlinie <EU> 2017/541). Die vorstehenden Ausführungen lassen deutlich werden, dass die Annahme einer terroristischen Gefahr eine unmittelbare räumliche Beziehung zwischen den terroristischen Aktivitäten und der Bundesrepublik Deutschland nicht voraussetzt (so auch Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 58a AufenthG Rn. 23; a.A. Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier <Hrsg.>, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand Januar 2019, § 58a AufenthG Rn. 19). Terroristische Bedrohungen gefährden die Sicherheitsinteressen der Staatengemeinschaft und nicht allein desjenigen Staates, in dessen Gebiet sie nach dem Willen der terroristischen Kämpfer Platz greifen sollen. [...]