Selbsteintrittspflicht zur Dublin-Familienzusammenführung auch nach Fristablauf:
1. Auch nach Ablauf der Zuständigkeitsfristen aus der Dublin-III-VO und der EU-Zuständigkeits-DVO besteht wegen des Grundsatzes der Wahrung der Familieneinheit eine Pflicht der BRD zur Aufnahme der minderjährigen Kinder eines in Deutschland subsidiär Schutzberechtigten. Das in Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO vorgesehene Ermessen verdichtet sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt.
2. Dies gilt auch für die erste Ehefrau und Mutter der minderjährigen Kinder, da die BRD zumindest nach Art. 11 Bst.. a Dublin-III-VO zuständig für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz des Großteils ihrer Familienangehörigen ist.
3. Eine besondere Dringlichkeit, die eine Verpflichtung zum Selbsteintritt im einstweiligen Rechtsschutz rechtfertigt liegt vor, wenn im ersuchenden Mitgliedsstaat eine sachliche Entscheidung über den Asylantrag bevorsteht. Denn danach unterfallen die Schutzsuchenden nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin-III-VO, weshalb ein nicht umkehrbarer Zuständigkeitsübergang einträte, der die Familieneinheit auf asylrechtlicher Grundlage unmöglich macht.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf VG Berlin, Beschluss vom 15.03.2019 - 23 L 706.18 A - asyl.net: M27101)
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1. Jedenfalls hinsichtlich der Antragsteller zu 2. bis 4. ist die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 9 Dublin III-VO für die Prüfung der Asylanträge zuständig. Nach Art. 9 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrages zuständig, in dem ein Familienangehöriger des Antragstellers als Begünstigter internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt ist, wenn der Antragsteller diesen Wunsch schriftlich kundtut. Die Antragsteller zu 2. bis 4. sind die minderjährigen Kinder des Antragstellers zu 5., weshalb es sich um Familienangehörige im Sinne der Dublin III-VO handelt (Art. 2 lit. g Dublin III-VO). Der Antragsteller zu 5. verfügt über subsidiären Schutz - und damit eine Form des internationalen Schutzes - in Deutschland. Auch haben die Antragsteller zu 2. bis 4. sowie der Antragsteller zu 5. schriftlich den Wunsch kundgetan, die Bundesrepublik Deutschland solle für die Prüfung ihrer Asylanträge zuständig sein.
Selbst wenn man im Hinblick auf die Antragstellerin zu 1. der Meinung wäre, dass sie als erste Ehefrau des Antragstellers zu 5. nicht zum Kreis der Familienangehörigen des Art. 2 lit. g Dublin III-VO gehöre, ergibt sich eine Zuständigkeit jedenfalls aus Art. 11 lit. a Dublin III-VO.
An der Tatsache, dass die Antragsteller zu 2. bis 4. die Kinder des Antragstellers zu 5. sind und die Antragsgegnerin zu 1. seine erste Ehefrau ist, hegt die Kammer keinerlei Zweifel. Bereits im Vermerk vom ... 2016 zum BAMF-Gz. ...-475 hat die Antragsgegnerin aufgenommen, dass sich die Kinder und die erste Ehefrau des Antragstellers zu 5. in der Türkei aufhalten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Beklagten in diesem Verfahren schon am 28. September 2018 beglaubigte Übersetzungen aus der Heiratsurkunde der Antragsteller zu 1. und 5. sowie dem Familienbuch - mit Personaldaten der gemeinsamen Kinder, der Antragsteller zu 2. bis 4. - vorlagen (Bl. 242 ff. der o.a. Verwaltungsakte).
Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Bearbeitung des Asylverfahrens der Antragsteller zu 1. bis 4. ist auch nicht wegen des Ablaufs von Zuständigkeitsfristen nach der Dublin III-VO entfallen. Griechenland hat zunächst die in Art. 21 Abs. 1, 20 Abs. 2 Dublin III-VO enthaltene Frist von drei Monaten nach Antragstellung zur Stellung des Aufnahmegesuchs eingehalten. Ein Zuständigkeitsübergang auf Griechenland gemäß Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO ist daher nicht eingetreten.
Die Zuständigkeit dürfte auch nicht aus anderen Gründen auf Griechenland übergegangen sein. Nach Ablehnung des Aufnahmegesuchs durch die Bundesrepublik Deutschland hat Griechenland hiergegen remonstriert. Gemäß dem insoweit maßgeblichen Art. 5 Abs. 2 der Durchführungsverordnung ist der ersuchende Mitgliedstaat berechtigt, eine neuerliche Prüfung seines Gesuches zu verlangen, wenn er sich auf weitere Unterlagen berufen kann. Diese Möglichkeit muss binnen drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort in Anspruch genommen werden. Vorliegend hat Griechenland innerhalb der dreiwöchigen Frist das als Anlage 3 mit dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz übersandte Schreiben an die Bundesrepublik Deutschland übersandt und damit zu erkennen gegeben, dass eine neuerliche Prüfung verlangt werde. Diese neuerliche Prüfung hat die Antragsgegnerin in der Folge mehrmals abschlägig beschieden. Ein Zuständigkeitsübergang auf Griechenland ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. November 2018 — C-47/17, C-48/17 - (juris), dem eine Situation zugrunde lag, in der die Frist des Art. 5 Abs. 2 der Durchführungsverordnung gerade abgelaufen war, was sich zugunsten der Asylantragsteller auswirkte und diese sich darauf berufen hatten, wovon vorliegend allerdings nicht ausgegangen werden kann (vgl. zur Problematik zuletzt: VG Berlin, Beschluss vom 15. März 2019 - 23 L 706.18 A -, juris).
2. Die Antragsteller haben zudem einen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit einschließlich drohenden Rechtsverlustes glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich daraus, dass nach den gescheiterten Versuchen seitens der griechischen Dublin-Unit auf Übernahme der Antragsteller durch die Antragsgegnerin nunmehr eine Entscheidung in der Sache über das Asylbegehren der Antragsteller bevorsteht. Erfolgt im Anschluss hieran eine Bescheidung über das Asylbegehren, unterfielen die Antragsteller zu 1. bis 4. nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin III-VO. Um den Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland abzuwenden, bedarf es daher der einstweiligen Anordnung. Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist zulässig, da ansonsten ein nicht umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland einträte und die Familieneinheit der Antragsteller - jedenfalls auf asylrechtlicher Grundlage - nicht herbeigeführt werden könnte. Dies ist unzumutbar und rechtfertigt die ausnahmsweise Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. VG Münster, Beschluss vom 20. Dezember 2018 a.a.O.). [...]