VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 27.02.2019 - 7 K 20954/16 We - asyl.net: M27175
https://www.asyl.net/rsdb/M27175
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen Tätigkeit für ein US-Unternehmen im Irak:

Einem Schutzsuchenden, der im Irak als Tischler für eine US-amerikanische Firma gearbeitet hat, welche für die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte verantwortlich war und der deshalb in das Visier einer antiamerikanischen Gruppierung oder einer sunnitisch-islamistischen Terrororganisation geraten ist, droht bei einer Rückkehr unmenschliche Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG durch nichtstaatliche Akteure.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Registrierung, UNHCR, Bindungswirkung, Irak, USA, Streitkräfte, Militär, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, subsidiärer Schutz, ernsthafter Schaden, Kollaborateur, Berufsgruppe,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3c, AsylG § 3b Abs. 2,
Auszüge:

[...]

2. Jedoch liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG hinsichtlich des Klägers zu 1 vor. [...]

b) Allerdings ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zu 1 im Falle einer hypothetischen Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einen ernsthaften Schaden in Form einer unmenschlichen Behandlung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure zu befürchten hat (siehe aa) - § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG).  [...]

aa) Gemessen daran ist der Kläger zu 1 zur Überzeugung des Gerichts aus dem Irak ausgereist, da er von einem unmittelbaren ernsthaften Schaden in Form einer unmenschlichen Behandlung durch nichtstaatliche Akteure bedroht war, mithin eine Vorverfolgung erlitten hat.  [...]

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger zu 1 aufgrund seiner von 2007 bis 2009 erfolgten Beschäftigung für eine amerikanische Firma, bei welcher es sich nach außen hin um ein auf dem Gelände des internationalen Flughafens in Bagdad angesiedeltes polizeiliches oder militärisches Ausbildungscamp für irakische Sicherheitsbehörden und Militäreinheiten handelte, ins Visier einer antiamerikanischen Miliz, Organisation bzw. Gruppierung oder einer sunnitisch-islamistischen Terrororganisation geraten ist, welche beabsichtigte, den Kläger zu 1 aufgrund seiner (vermeintlich weiter bestehenden) Zusammenarbeit mit den amerikanischen "Feinden" zu töten. Wenngleich die US-Kampfverbände am 19.08.2010 den Irak verlassen haben, sind Ausbildungs- und Unterstützungseinheiten der US-Truppen bis 18.12.2011 im Land verblieben (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak - im Folgenden: AA, Lagebericht Irak - vom 26.03.2012, Seite 6, 12), um weiterhin irakische Streitkräfte bei der Ausbildung ihrer Leute zu unterstützen. Nach dem Abzug aller US-Truppen (18.12.2011) haben private Firmen die teilweise Ausbildung irakischer Streitkräfte übernommen (AA, Lagebericht Irak vom 26.03.2012, Seite 13), was erheblich dafür spricht, dass die handelnden Akteure zum Nachteil des Klägers zu 1 weiterhin davon ausgingen, dass amerikanische Polizei- und Militärausbilder, wenn auch nicht mehr unter der Flagge der US-Streikräfte, sondern bei einer privaten Firma als Unterstützer des irakischen Staates bei der Ausbildung von Kämpfern gegen nichtstaatliche Akteure wie sie weiterhin im Irak tätig sind. [...]

Sog. "Kollaborateure", aber auch Mitglieder des irakischen Sicherheitsapparates waren infolgedessen besonders gefährdet. Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten, waren ebenfalls immer wieder Ziel von Anschlägen, wobei die Attentäter in der Lage waren, ihre Oper sehr präzise auszuwählen und zu treffen (AA, Lagebericht Irak vom 07.10.2013, Seite 18). Die Tatsache, dass der Kläger zu 1 lediglich als Tischler für zunächst ein amerikanisches Unternehmen und später für die irakischen Sicherheitskräfte (unter zugeschriebener Beteiligung zumindest amerikanischer Helfer) arbeitete, steht einer konkreten Gefährdung des Klägers zu 1 mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3b Abs. 2 AsylG nicht entgegen. Anhand der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ist keine Unterscheidung zwischen der Art der Tätigkeit und der Gefährdungsintensität für die gefährdungsauslösenden Arbeitgeber dokumentiert. Überdies dürfte die Arbeit in einem abgegrenzten Militärcamp auf dem internationalen Flughafen in Bagdad nicht öffentlich sein und nur eingeweihten Mitarbeitern vorbehalten bleiben. Zu dem genannten gefährdeten Personenkreis gehörte zur Überzeugung des Gerichts nach den o.g. Schilderungen auch der Kläger zu 1. Seine konkrete individuelle Gefährdungslage manifestierte sich in dem Drohanruf und dem Beschuss der Wohnung im Juli 2013 seitens eines nichtstaatlichen Akteurs. Der Kläger zu 1. wurde mithin mit einem vorverfolgungsrelevanten ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht. [...]

Wie bereits oben ausgeführt, ist der irakische Staat ebenso wie dessen Parteien und Organisationen nicht in der  Lage, seinen Bürgern wirksamen internen Schutz vor vereinzelten Anschlägen des IS oder eigenmächtig handelnden schiitischen Milizen zu bieten (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3d AsylG). [...]

Nach Auffassung des Gerichts steht dem Kläger zu 1 zudem keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG). Wenngleich Bagdad mit seinen etwa 8 Mio. Einwohnern (BFA-Länderinformationsblatt Irak vom 18.05.2018, S. 12) ein Untertauchen auf den ersten Blick wahrscheinlich erscheinen lässt, so spricht nach Auffassung des Gerichts mehr dagegen. Wie bereits oben dargestellt, handelt es sich bei dem in Frage kommenden Akteur des drohenden unmittelbaren Schadens u.a. um eine zwischenzeitlich erstarkte schiitische Miliz, wobei unklar ist, von welcher konkret die Gefährdung ausgeht. Dass dem Kläger zu 1 mit Blick auf seine zurückliegende Tätigkeit für die amerikanischen Streitkräfte und die später tatsächliche Tätigkeit für irakische Sicherheitsbehörden aufgrund der Kontrolle des Zentralirak und Südens durch eine oder mehrere vermutlich machthabende Verfolgermilizen dem Kläger zu 1 (und seiner Familie) ein unbemerkter Existenzaufbau möglich sein wird, erachtet das Gericht nach den obigen Ausführungen für nicht beachtlich wahrscheinlich. [...]