VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 14.03.2019 - 31 L 828.18 A - asyl.net: M27184
https://www.asyl.net/rsdb/M27184
Leitsatz:

Systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen lassen sich für Schutzsuchende weder vor noch nach Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis ("tarjeta roja") in Spanien derzeit feststellen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Spanien, Aufnahmebedingungen, systemische Mängel,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

18 Systemische Schwachstellen des spanischen Asylsystems lassen sich nach dem eben skizzierten Maßstab zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG) nicht feststellen.

19 1. Eine konkrete durch Tatsachen belegte Gefahr für eine Verletzung von Art. 4 Grundrechtecharta ist in dem spanischen Asylsystem nicht zu erkennen, sofern Immigranten ihren formellen Asylantrag vollständig gestellt haben, der aus dem Ausfüllen eines Formulars und der Durchführung eines ersten Interviews besteht (Aida, Country Report Spain - update 2017, Bericht vom 15. März 2018, S. 21, 24). Hiernach erhalten Schutzsuchende im Falle eines zulässigen Asylantrags die sogenannte "tarjeta roja" (rote Karte), die Voraussetzung für eine spätere befristete Arbeitserlaubnis und den umfassenden Zugang zum spanischen Gesundheitssystem ist. Dies gilt auch für Dublin-Rückkehrer. Diese können einen Asylantrag stellen bzw. ein eventuelles Asylverfahren in Spanien fortsetzen. Sofern über einen vor Ausreise aus Spanien gestellten Asylantrag noch nicht entschieden wurde und das Asylverfahren zwischenzeitlich eingestellt wurde, besteht ebenfalls die Möglichkeit, einen weiteren Asylantrag zu stellen, der nicht als Folgeantrag gewertet wird (Aida, a.a.O., S. 30).

20 Schutzsuchende haben nach Erhalt der "tarjeta roja" das Recht auf Unterbringung und Versorgung zur Deckung ihrer grundlegenden Bedürfnisse und sind vor einer Abschiebung geschützt (Aida, a.a.O., S. 21, 49 ff.). Für den Zeitpunkt nach dem Erhalt der "tarjeta roja" liegen dem Gericht nach wie vor keine Anhaltspunkte vor, dass systemische Schwachstellen bestehen (so auch bisherige Rechtsprechung der Kammer, z.B. Beschluss vom 2. Januar 2018 – VG 31 L 643.17 A – EA S. 4 mit u.a. Verweis auf VG Minden, Urteil vom 13. Juni 2017 – 10 K 240/15.A –, juris Rn. 116 ff.; VG Aachen, Beschluss vom 16. Mai 2017 – 4 L 649/17.A –, juris Rn. 17ff.; ebenso zuletzt: VG Berlin, Beschluss vom 6. Februar 2019 – VG 34 L 542.18 A – E.A. S.4; VG Würzburg, Beschluss vom 18. Januar 2019 – W 8 S 19.50035 –, juris Rn. 14 ff.). [...]

21 Auch im Hinblick auf das spanische Integrationsprogramm für Schutzsuchende bestehen derzeit keine wesentlichen Gründe für die Annahme systemischer Schwachstellen (vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 2. August 2017 – Au 7 K 15.50006 –, juris Rn. 85 ff.). [...]

22 2. Eine konkrete durch Tatsachen belegte Gefahr für eine Verletzung von Art. 4 Grundrechtecharta ist auf der Grundlage der Erkenntnismittelliste vom 5. Februar 2019 auch im vorherigen Verfahrensstadium bis zum Erhalt der "tarjeta roja" nicht zu erkennen, obwohl Immigranten sich bis dahin in einer deutlich ungünstigeren Lage befinden.

23 a. Bis zum Erhalt der "tarjeta roja" unterfallen Immigranten der – aufgrund der langen Wartezeiten bis zur formellen Antragstellung im Jahr 2014 eingeführten – Erstversorgungsphase ("Assessment and referral phase"), in der durch den spanischen Staat finanzierte Nichtregierungsorganisationen eine Unterbringung in von ihnen betriebenen Aufnahmezentren und Notunterkünften vornehmen oder, wenn deren Kapazitäten erschöpft sind, eine Unterbringung in Hotels ermöglichen, so dass eine Basisversorgung in dieser Zeit gewährleistet ist (Aida, a.a.O, S. 50 f.¸ BfA, a.a.O., S. 10). [...]

25 b. Auch stellt die Gesundheitsversorgung für Schutzsuchende, die nicht im Besitz einer "tarjeta roja" sind, keine systemische Schwachstelle des Asylsystems in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta dar.

26 Zwar sind aufgrund einer Reform im Jahr 2012 Schutzsuchende, die noch keinen formellen Asylantrag stellen konnten, grundsätzlich von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Zugang zur Gesundheitsversorgung besteht insoweit nur für Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und für Frauen während Schwangerschaft und nach Entbindung, im Übrigen ist der Zugang auf eine Notfallversorgung bei schwerer Erkrankung oder bei einem Unfall beschränkt (COE, a.a.O., S. 20 f.; El Pais, Artikel vom 16. November 2018: "Más de 24 horas en la calle para solicitar asilo: Somos personas, no animales").

27 Diese Umstände belegen aber keine systemische Schwachstelle, die im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO dadurch gekennzeichnet ist, das von ihr alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind (vgl. hierzu sowie zum Folgenden OVG Lüneburg, Urteil vom 15. November 2016, a.a.O, Rn. 34 f., 36 f. m.w.N). [...]

28 c. Auch stellt es nach derzeitig verfügbarer Erkenntnislage keine systemische Schwachstelle des spanischen Asylsystems dar, dass eingereiste Immigranten sich nunmehr persönlich registrieren lassen müssen. [...]

30 d. Des Weiteren besteht keine durch Tatsachen belegte Gefahr, dass Dublin-Rückkehrer nach einer Überstellung nach Spanien einer Verletzung des Zurückschiebungsverbots (Non-Refoulement, Art. 4 i.V.m. Art. 19 Abs. 1 Grundrechtecharta) ausgesetzt sein könnten. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diese in ihre Herkunftsländer oder nach Marokko, das in Spanien als sicherer Drittstaat angesehen wird (BfA, a.a.O., S. 9), abgeschoben werden könnten, ohne dass zuvor in Spanien ihre Asylgründe inhaltlich geprüft würden. Zwar gab es in der Vergangenheit vereinzelt auch auf dem spanischen Festland Fälle von vor allem afrikanischstämmigen Immigranten, die abgeschoben wurden, da sie aufgrund langer Wartezeiten noch keinen formellen Asylantrag stellen konnten und nach früherer Verwaltungspraxis nicht im Besitz amtlicher Papiere waren (Aida, a.a.O., S. 21, BfA, a.a.O., S. 9), aber diese Gefahr besteht zur Überzeugung des Gerichtes aktuell nicht mehr, da seit der Einführung der persönlichen Registrierung ab Mai 2018 Immigranten nach erfolgter Registrierung Abschiebungsschutz bis zur Durchführung der formellen Antragstellung erhalten (s.o.). [...]