VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 02.04.2019 - A 10 K 8159/17 - asyl.net: M27188
https://www.asyl.net/rsdb/M27188
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für politisch aktiven Kurden aus der Türkei:

Einem kurdischen Schutzsuchenden, der bereits in der Türkei an Veranstaltungen der HDP teilgenommen hat, ohne Parteimitglied zu sein, der dort zudem verhaftet und von Polizisten misshandelt wurde, und der in der Bundesrepublik exilpolitisch tätig ist, droht in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: HDP, Türkei, Kurden, Exilpolitik, politische Verfolgung, Demonstrationen, Teilnahme an Demonstrationen, Sympathisant,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 2a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 28 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger droht bei der Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG. Ausweislich den der Kammer vorliegenden Erkenntnismittel hat sich die politische Lage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch von Sommer 2016 erheblich verschlechtert (vgl. allgemein zur Lage in der Türkei VG Karlsruhe, Urteil vom 20.07.2017 - A 10 K 3981/16 -, juris Rn. 41 ff., vgl. zur im Wesentlichen unverändert fortbestehenden Lage nach dieser Entscheidung Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 03.08.2018 (Stand Juli 2018), S. 4 ff., 17 ff., 23, 27, 32; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt zur Staatendokumentation Türkei, Stand: S. 5 ff.). Öffentliche Äußerungen in sozialen Netzwerken sowie die Beteiligung an Demonstrationen im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind in der Türkei strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 03.08.2018, S. 23; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt zur Staatendokumentation Türkei, Stand: 18.10.2018, S. 92). Zwar wird nicht jede regierungskritische Äußerung bestraft, aber die Willkür der Strafverfolgung, die oft zu Untersuchungshaft führt und das Risiko langer Haftstrafen birgt, schafft zunehmend eine Atmosphäre der Selbstzensur. In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko von zivil- oder strafrechtlichen Verfahren oder Ermittlungen einzugehen. Die Regierung beschränkt auch Äußerungen von Einzelpersonen, die mit gewissen religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten sympathisieren. Viele, die zu sensiblen Themen schreiben oder sich äußern oder die Regierung kritisieren, riskieren behördliche Untersuchungen (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt zur Staatendokumentation Türkei, Stand: 18.10.2018, S. 48). [...]

Angesichts dessen ist aufgrund der Willkür der Strafverfolgung davon auszugehen, dass dem Kläger im Falle seiner Abschiebung in die Türkei politische Verfolgung droht. Die erforderliche Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich daraus, dass der Kläger sich in Deutschland in nennenswertem Umfang exilpolitisch betätigt hat und darüber hinaus in der Türkei bereits ins Visier der Ermittlungsbehörden gelangt ist.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft berichtet, dass er sich bereits in der Türkei für die Belange der Kurden eingesetzt und auch an Veranstaltungen für die HDP teilgenommen hat. Nach seiner Ausreise nach Deutschland hat er an ungefähr 100 Veranstaltungen teilgenommen, welche die Belange der Kurden betreffen. In ungefähr der Hälfte der Veranstaltungen war er nicht nur Teilnehmer, sondern hat als Ordner die Demonstrierenden vor Gegendemonstrationen durch andere Türken geschützt. Bei den Veranstaltungen handelte es sich sowohl um Veranstaltungen der HPD als auch um andere kurdische Veranstaltungen. [...]

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung und bei der Anhörung durch das Bundesamt darüber hinaus glaubhaft berichtet, dass er im März 2016 im Zusammenhang mit Ausschreitungen in seiner Heimatstadt aus seinem Haus vertrieben und für eine Nacht festgenommen wurde. Außerdem wurde er im Winter 2016 von mehreren Polizisten unter anderem mit einem Gewehrkolben geschlagen. [...]