VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 20.03.2019 - 5 A 1332/18 SN - asyl.net: M27204
https://www.asyl.net/rsdb/M27204
Leitsatz:

Häusliche Gewalt in der Ukraine:

1. Die Strafverfolgungsbehörden in der Ukraine sind trotz weiterhin bestehender schwerer Mängel willens und in der Lage, Betroffene vor häuslicher Gewalt zu schützen.

2. Seit 2014 wurden durch die Regierung zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um das geschwächte Vertrauen in Polizei und Justiz zu stärken und die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ukraine, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Korruption, Rechtsstaatlichkeit, Kriminalität, Schutzfähigkeit, häusliche Gewalt, Frauen, Rechtsstaat, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3, AufenthG § 11 Abs. 1, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

19 Gemessen an diesen Anforderungen ist das Gericht aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Kläger der Auffassung, dass nicht ersichtlich, dass die ukrainischen Sicherheitsbehörden erwiesenermaßen nicht willens oder in der Lage sind, Schutz vor nichtstaatlichen Akteure zu gewähren (vgl. auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22.12.2016 – 11 ZB 16.30679 –, Rn. 7, juris; VG München, Beschluss vom 12.06.2017 – M 16 S 17.31633 –, Rn. 23, juris; VG Würzburg, Urteil vom 25.08.2017 – W 6 K 16.31955 –, Rn. 21, juris; VG Bayreuth, Urteil vom 24.11.2017 – B 5 K 16.30976 –, Rn. 24, juris; VG Bayreuth, Urteil vom 08.03.2018 – B 5 K 16.31001 –, Rn. 28, juris).

20 Die Kriminalitätsrate ist in der Ukraine zwar nach wie vor hoch und die Situation wird zusätzlich durch die weitverbreitete Korruption und die mangelhafte Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden verschärft (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 23.04.2015). Ferner haben die ukrainischen Sicherheitsbehörden nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 12.03.2018 und 22.02.2019 sowjetische Traditionen noch nicht völlig abgestreift (jeweils S. 8). Reformen werden von Teilen des Staatsapparats abgelehnt. Auch wird ausgeführt, dass die Justiz in der Praxis politischem Druck ausgesetzt und durch Korruption, Ineffizienz und Mangel an Vertrauen der Öffentlichkeit geschwächt gewesen sei (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12.06.2015 mit Kurzinformation vom 15.04.2016, S. 15).

21 Hingegen ist nach aktuellen Auskünften auch festzustellen, dass sich die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis zunehmend an westeuropäischen Standards orientiert und wichtige Reformen erfolgreich durchgeführt worden sind, u.a. im Bereich der Polizei (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 12.03.2018, S. 5, 10, und vom 22.02.2019, S. 5, 10). Die Ukraine ist Vertragsstaat der meisten  Menschenrechtskonventionen und die ukrainische Verfassung garantiert eine unabhängige Justiz. Verfassung und Gesetze garantieren das Recht auf Regress für Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12.06.2015 mit Kurzinformation vom 15.04.2016, S. 15). Der zu verzeichnende Anstieg der Kriminalität wird auch damit in Zusammenhang gebracht, dass die neu geschaffene Nationalpolizei öfter von der Bevölkerung gerufen wird (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 26.07.2017, Stand 20.12.2017, S. 24).

22 Bereits im April 2014 wurde ein Gesetz zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Justiz verabschiedet, demzufolge die bisherige Praxis der weitgehenden Unterstellung der Richter unter die Gerichtspräsidenten abgeschafft wurde und diese in weiterer Folge unabhängig von politischen Einflüssen machte. Ein Entwurf einer Justizreformstrategie wurde gemeinsam mithilfe der EU entwickelt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12.06.2015 mit Kurzinformation vom 15.04.2016, S. 16). Das Parlament hat am 02.06.2016 mit der Ergänzung der Verfassung, der Verabschiedung einer neuen Justizgesetzgebung und außerdem mit neuen Gesetzen zur Urteilsvollstreckung eine lange erwartete Justizreform auf den Weg gebracht (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine-Analysen, 15.06.2016, S. 2 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 26.07.2017, Stand 20.12.2017, S. 20). Zwar ist auch zu beobachten, dass die Umsetzung der Justizreform in der Ukraine bisher nicht vollumfänglich dazu führt, dass das alte System abgeschafft wird. So wird etwa bei der Besetzung des Obersten Gerichtshof in der Ukraine bemängelt, dass ihm vorwiegend Richter des alten Systems angehören (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an  der Universität Bremen, Ukraine Analysen,15.11.2017, S. 3). Dennoch sind wichtige Schritte zur Schaffung neuer Strukturen und Besetzung der Gerichte mit unabhängigen Richtern gemacht worden. Die Arbeit an der Erneuerung der Gerichte wird fortgesetzt, die Eignungsprüfung für amtierende Richter eingeleitet. Die juristische Ausbildung für zukünftige Juristen, darunter Richter, wird reformiert. So wurde beispielsweise im August 2017 eine einheitliche Aufnahmeprüfung mit externer unabhängiger Bewertung (ZNO) für das Jurastudium auf MA-Niveau eingeführt. Insgesamt ist daher festzustellen, dass Fortschritte erzielt werden (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 15.11.2017, S. 5).

23 Von Gesetzes wegen werden zudem alle wesentlichen verfahrensrechtlichen Garantien gewährleistet. Die EU errichtete eine "EU Advisory Mission for Civilian Security Reform Ukraine", um die Ukraine bei der Reform ihres zivilen Sicherheitssektors zu unterstützen, insbesondere bei der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und im Bereich der Polizei (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12.06.2015 mit Kurzinformation vom 15.04.2016, S. 17). Im Jahr 2015 wurde eine neue Nationalpolizei geschaffen, die für ihre Integrität gelobt wird (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 07.02.2017, S. 5, und vom 22.09.2019, S. 8). Die Polizeireform, die seit 2015 nach und nach in allen Landesteilen durchgeführt wird, hat viel Anerkennung gefunden, auch wenn keine vollständige Ersetzung alter Milizangehöriger durch neue Polizisten erfolgte. Alle früheren Milizangehörigen mussten sich einer Überprüfung und Zusatzausbildung unterziehen oder aus dem Dienst ausscheiden. Tausende von neuen Polizeibeamten, ein Viertel von ihnen Frauen, wurden eingestellt. Sie erhalten eine qualifizierte Ausbildung, werden besser bezahlt und gelten als nicht bestechlich (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 09.03.2016, S. 3).

24 Des Weiteren erließ das ukrainische Parlament am 14.10.2014 verschiedene Maßnahmen, um gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen (vgl. Home Office, Country Information an Guidance, Ukraine: Fear of organised criminal gangs, Mai 2016, S. 5 f., 24 ff.; vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 26.07.2017, Stand 20.12.2017, S. 28). Als Ergebnis gibt es in der ukrainischen Gesetzgebung fünf Kernstücke zur Korruptionsbekämpfung (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 09.03.2016, S. 11 ff.). So wurden insbesondere Behörden zur Verhinderung und Bekämpfung von Korruption geschaffen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 23.04.2015; Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 09.03.2016, S. 11 ff.). Das Nationale Antikorruptionsbüro NABU ist ein Strafverfolgungsorgan, das bevollmächtigt und beauftragt ist, Korruptionsvergehen staatlicher Organe - vor allem unter Staatsangestellten im gehobenen und höheren Dienst - aufzudecken, zu untersuchen, zu verhindern und zu beenden. Das NABU hat sich im Kampf gegen die Korruption als kompromisslos erwiesen, unabhängig von den politischen Verflechtungen der involvierten korrupten Personen. Seine Tätigkeit genießt die Unterstützung westlicher Länder (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 12.10.2016, S. 7 ff.). Es gibt mittlerweile auch eine spezielle Staatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung und den dem Präsidenten unterstellten Nationalrat zur Korruptionsbekämpfung. Die Zahl der wegen Korruptionsvergehen verfolgten Beamten ist deutlich angestiegen (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 12.10.2016, S. 6 f.). Das Gericht verkennt bei der Bewertung nicht, dass die für Ende 2017 geplante Schaffung eines Antikorruptionsgerichtshofes zunächst nicht realisiert werden konnte (vgl. nur Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 15.11.2017, S. 2 ff.). Auch gab es Bestrebungen im Parlament, die Unabhängigkeit des NABU durch eine parlamentarische Kontrolle zu schwächen. Jedoch ist dieser Gesetzesentwurf wieder von der Tagesordnung genommen worden nach heftiger Kritik u.a. auch der Zivilgesellschaft in der Ukraine. Die EU und der IWF hatten die Auszahlung von Hilfskrediten verweigert, solange der Kampf gegen die grassierende Korruption nicht vorankommt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 26.07.2017, Stand 20.12.2017, S. 5 f.). Am 07.06.2018 stimmte nun das Parlament für die Einrichtung eines Korruptionsgerichtshofs. Das Gericht soll innerhalb von zwölf Monaten eingerichtet werden. Der Präsident der Venedig-Kommission bestätigte, dass das Gesetz den Empfehlungen der Kommission entspricht (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine  Analysen, 15.06.2018, S. 23).

25 Unterstützt von der ebenfalls neu gegründeten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft, wurden bis 01.10.2016 243 Korruptionsverfahren eröffnet. Viele der Vergehen waren aber eher geringfügig. Als hochrangiger Fall ist die Anklage des Parlamentsabgeordneten Oleksandr Onyshchenko zu nennen, dessen Immunität dafür aufgehoben wurde. Onyshchenko ist aber weiterhin flüchtig. Zwischen Juli 2015 und Juli 2016 wurden in der Ukraine 952 Personen wegen Korruption verurteilt. Davon wurden 312 mit Bußgeldern belegt (70% der Bußgelder blieben unter UAH 20.000), 336 Personen erhielten Bewährungsstrafen und 137 Verurteilungen wurden wieder aufgehoben. 128 Personen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, wogegen in 95 Fällen noch Rechtsmittel anhängig sind. 3 dieser 952 Personen waren Beamte in nennenswerter Position. Generalstaatsanwaltschaft und Justiz stehen zwar in der öffentlichen Kritik, weil so wenig hochrangige Korruptionsfälle verfolgt werden. Es gibt auch Berichte, dass die Generalstaatsanwaltschaft NABU absichtlich behindert. Im August 2016 gab es einen Zugriff von Organen der Generalstaatsanwaltschaft auf das NABU-Hauptquartier in Kiew wegen angeblicher illegaler Abhöraktionen des NABU gegen die Generalstaatsanwaltschaft (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt, 26.07.2017, Stand 20.12.2017, S. 29 f.). Trotz dieser Schwierigkeiten bei der Korruptionsbekämpfung in der Ukraine, die auch durch Vorbehalte innerhalb der Ukraine begründet sind, ist aber insgesamt festzustellen, dass ein institutioneller Rahmen für die Bekämpfung von Korruption geschaffen und durch ein System zur systematischen Offenlegung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse von Staatsbediensteten gestärkt wurde (vgl. zuletzt Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.02.2019, S. 5). Und trotz verschiedener Angriffe auf die Unabhängigkeit des NABU und  die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft gibt es seit 1991 erstmals eine unabhängige Ermittlungsbehörde, die nicht vor Ermittlungen und Angriffen zurückschreckt und sich dem Kampf gegen Korruption stellt (vgl. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 25.01.2018, S. 21 f.). Auch nach dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparancy International ist eine leichte Verbesserung der Situation über die Jahre zu verzeichnen (vgl. von Platz 142 mit 26 Punkten im Jahr 2014 auf Platz 130 mit 30 Punkten im Jahr 2017, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Ukraine Analysen, 10.10.2018, S. 7).

26 Vor diesem Hintergrund kann derzeit nicht festgestellt werden, dass ein etwaiges Schutzersuchen der Kläger bei den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden - einschließlich der ukrainischen Polizei - aussichtslos wäre. Die Darlegungslast im Hinblick auf ihre Bemühungen, nationalen Schutz in Anspruch zu nehmen bzw. darzulegen, warum das persönlich nicht zumutbar sein könnte, liegt bei den Klägern ("erwiesenermaßen"). Die Kläger, die zuletzt in T. gelebt haben, haben sich vor der Ausreise nicht an die Polizei gewandt. Insoweit führte die Klägerin zu 1. aus, sie habe sich erst hier in Deutschland von ihrem Mann getrennt. In der Ukraine sei es üblich, dass Frauen Konflikte mit ihren Männern ertragen, wenn Kinder in der Familie seien. Auch seien ihre Söhne nicht von ihrem Mann bedroht worden, nur sie sei betroffen. Häusliche Gewalt ist zwar ein ernstes Problem in der Ukraine, vor allem im Zusammenhang mit dem Konflikt im Osten der Ukraine. Sie ist aber verboten. Man kann dafür unmittelbar für fünf Tage von der Polizei festgenommen werden. Es gab 2016 bis September 922 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt, von denen 833 vor Gericht kamen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt, 26.07.2017, Stand: 28.11.2018, S. 55). Zudem gibt es, wenn auch nicht flächendeckend und in gesetzlich vorgesehener Anzahl, Schutzeinrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt jedenfalls in den städtischen Zentren, insbesondere in der Hauptstadt (vgl. Home Office, Country Policy and Information Note Ukraine: Gender-based violence, May 2018, S. 28 ff.; siehe auch zu Dnepropetrovsk IOM, Auskunft vom 14.02.2017: Unterkünfte und Beratung bis zu einer Dauer von 90 Tagen). Daneben gibt es u.a. eine Hotline, die Betroffene rund um die Uhr anrufen können (vgl. Home Office, Country Policy and Information Note Ukraine: Gender-based violence, May 2018, S. 30). [...]