VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 03.04.2019 - 8 B 65/19 - asyl.net: M27227
https://www.asyl.net/rsdb/M27227
Leitsatz:

Keine Dublin-Überstellung von schwangerer Frau mit Kind nach Italien:

1. Eine Dublin-Überstellung von Familien mit Kindern stellt ohne individuelle Zusicherung, dass diese ihrem besonderen Schutzbedürfnis entsprechend untergebracht werden, eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar.

2. Die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wäre zwar erst dann überschritten, wenn der italienische Staat die Notlage von Schutzsuchenden mit Gleichgültigkeit hinnimmt (siehe EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 Jawo gg. Deutschland - Asylmagazin 5/2019, S. 196 ff. - asyl.net: M27096). Italienische Behörden verhalten sich gegenüber Familien mit Kindern aber nicht gleichgültig, sondern haben diese laut Rundschreiben der Regierung im Blick. Da bei der Rücküberstellung von minderjährigen Kindern jedoch grundsätzlich eine ihren besonderen Bedürfnissen gerecht werdende Unterbringung tatsächlich sichergestellt sein muss und nicht nur künftig in Aussicht stehen darf, ist dies unerheblich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Italien, Kind, minderjährig, Dublinverfahren, Aufnahmebedingungen, Zusicherung, Schwangerschaft, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, besonders schutzbedürftig, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

9 Bei Kindern ist - unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern begleitet werden - zu berücksichtigen, dass der durch Art. 3 EMRK vermittelte Schutz noch wichtiger ist, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind (EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 119). [...]

10 Auch derzeit und damit im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts besteht die Möglichkeit, dass eine erhebliche Anzahl von Schutzsuchenden in der Situation der Antragstellerin mit ihrem fünfjährigen Sohn keine ihren Mindestbedürfnissen entsprechende Unterkunft finden (a.A. VG Hamburg, Beschl. v. 04.03.2019 - 9 AE 5844/18 -, juris Rn. 21 ff.). [...]

49 Nach diesen Ausführungen, denen das Gericht folgt, droht Dublin-Rückkehren im Hinblick auf die Unterkunftssituation zwar nicht generell eine Art. 3 EMRK verletzende Behandlung. Jedoch folgt aus diesen Erkenntnissen auch nicht, dass eine Unterbringung von Familien mit Kindern, an die erhöhte Anforderungen zu stellen sind, entsprechend ihrem besonderen Schutzbedürfnis gewährleistet ist. Vielmehr besteht danach auch die Möglichkeit, dass Familien mit Kindern nach ihrer Rückkehr unter ihren Anforderungen nicht genügenden Bedingungen untergebracht werden oder sogar (zumindest zunächst) obdachlos werden (vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urt. v. 22.02.2019 - 1a K 4879/18.A -, juris Rn. 44; anders: VG Hamburg, Beschl. v. 04.03.2019 - 9 AE 5844/18 -, juris Rn. 23). Soweit die Lage der Familien in diesen Fällen auf einer grundsätzlich keine systemische Schwachstelle darstellenden Sanktionierung (etwa wegen des ungenehmigten Verlassens Italiens) beruht, ist bei Minderjährigen - wie oben bereits ausgeführt - zu beachten, dass ihre besonders verwundbare Lage schwerer wiegt, als die Tatsache, dass sie Ausländer mit unrechtmäßigem Aufenthalt sind (vgl. EGMR, Urt. v. 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 99). Dies muss auch gelten, wenn sie bzw. ihre Eltern mit ihnen ihren bisherigen Aufenthaltsort ohne Genehmigung verlassen haben. [...]

53 Angesichts der - bereits oben ausgeführten - besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern, steht dem nicht entgegen, dass der italienische Staat auf die Situation von schutzsuchenden Familien mit minderjährigen Kindern nicht mit Gleichgültigkeit reagiert, sondern diese nach dem neuerlichen Rundbrief vom 8. Januar 2019 weiter im Blick hat. Denn bei der Rücküberstellung von minderjährigen Kindern muss grundsätzlich eine ihren besonderen Mindestbedürfnissen gerecht werdende Unterbringung tatsächlich sichergestellt sein und nicht nur künftig in Aussicht stehen. Soweit die Antragsgegnerin anführt, dass das Bundesministerium des Innern dem Vorschlag des Bundesamtes zugestimmt habe, Übernahmeersuchen für Familien mit Kindern unter drei Jahren an Italien wieder aufzunehmen, hat sie nicht mitgeteilt, welche aktuellen Erkenntnisse über deren dortige Unterbringung dem Vorschlag des Bundesamtes zugrunde liegen.

54 Nach alledem bedarf es vor einer Abschiebungsanordnung von Familien mit minderjährigen Kindern, wie bei der Antragstellerin und ihrem fünfjährigen Sohn, einer Zusicherung der italienischen Behörden gegenüber der Beklagten, dass die Schutzsuchenden bei ihrer Ankunft in Italien (auch aktuell) in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Kinder entsprechen und dass die Familieneinheit gewahrt wird (vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urt. v. 22.02.2019 - 1a K 4879/18.A -, juris Rn. 36 ff.; VG Magdeburg, Beschl. v. 09.11.2018 - 2 B 589/18 -, juris Rn. 8). Eine solche liegt nicht vor. [...]