OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17.04.2019 - 2 O 152/18 - asyl.net: M27243
https://www.asyl.net/rsdb/M27243
Leitsatz:

Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Ausbildungsduldung:

1. Zu den Anspruchsvoraussetzungen des § 60a Abs. 2 S. 4 AufenthG gehört nicht, dass Zweifel über die Person, das Lebensalter oder die Staatsangehörigkeit  nicht (mehr) bestünden (so aber BayVGH, Beschl. v. 30.01.2019 – 19 CE 18.1725 –, juris RdNr. 18). Hierfür gibt es im Wortlaut des § 60a Abs. 2 S. 4 bis 12 AufenthG keine hinreichenden Anhaltspunkte.

2.  Mangelnde Mitwirkung als Versagungsgrund für die Beschäftigungserlaubnis muss ein gewisses Gewicht erreichen, so dass es gerechtfertigt erscheint, sie aktivem Handeln gleichzustellen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 09.05.2018 – 10 CE 18.738 –, juris RdNr. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 – juris). Zeitlich verzögerte Mitwirkungshandlungen stehen in ihrer Intensität den in § 60a Abs. 6 S. 2 AufenthG genannten Regelbeispielen nicht annähernd gleich (vgl. BayVGH, Beschl. v. 09.05.2018 – 10 CE 18.738 –, a.a.O. RdNr. 8).

3. Soweit alle übrigen Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 S. 4 AufenthG für die Erteilung einer Ausbildungsduldung vorliegen, ist Ermessen für die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis im Regelfall auf "Null" reduziert. Die in § 60a Abs. 2 S. 4, Abs. 6 AufenthG erfassten Lebenssachverhalte sind (spezial-gesetzlich) abschließend geregelt. Diese Regelungen sind auch bei der Ermessensausübung nach § 4 Abs. 2 S. 3 AufenthG als ermessensleitend zu beachten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Prozesskostenhilfe, Täuschung über Identität, Identitätsfeststellung, Altersfeststellung, Mitwirkungspflicht, Arbeitsgenehmigung, Beschäftigungserlaubnis,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 4, AufenthG § 60a Abs. 6, AufenthG § 48 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 49 Abs. 2, AufenthG § 4 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

27 [...]

Der teilweise vertretenen Auffassung, zu den Anspruchsvoraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG gehöre auch, dass Zweifel über die Person, das Lebensalter oder die Staatsangehörigkeit des Ausländers nicht (mehr) bestünden (vgl. BayVGH, Beschl. v. 30.01.2019 – 19 CE 18.1725 –, juris RdNr. 18), folgt der Senat nicht, da es hierfür im Wortlaut des § 60a Abs. 2 Satz 4 bis 12 AufenthG keine hinreichenden Anhaltspunkte gibt.

28 (3) Der Antragsteller hat auch nicht seine Mitwirkungspflichten verletzt. Zwar kann neben den in § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG beispielhaft aufgeführten Fällen der Täuschung und Falschangabe auch in der unzureichenden Mitwirkung bei der Identitätsklärung und Passbeschaffung grundsätzlich ein Versagungsgrund nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu sehen sein (vgl. Beschl. d. Senats v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 –, juris RdNr. 18). Ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer ist im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten gemäß §§ 48 Abs. 3 Satz 1, 49 Abs. 2 AufenthG gefordert, bezüglich seiner Identität und Staatsangehörigkeit zutreffende Angaben zu machen, an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihm verlangen, und darüber hinaus eigeninitiativ ihm mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, seine Identität und Staatsangehörigkeit zu klären und die Passlosigkeit zu beseitigen. Die zuständige Ausländerbehörde ist dabei gehalten, in Erfüllung ihr selbst obliegender behördlicher Mitwirkungspflichten konkret zu bezeichnen, was genau in welchem Umfang vom Ausländer erwartet wird, wenn sich ein bestimmtes Verhalten nicht bereits aufdrängen muss. Unter Berücksichtigung der Regelbeispiele in § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG muss eine mangelnde Mitwirkung ein gewisses Gewicht erreichen, so dass es gerechtfertigt erscheint, sie aktivem Handeln gleichzustellen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 09.05.2018 – 10 CE 18.738 –, juris RdNr. 6; Beschl. d. Senats v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 –, a.a.O. RdNr. 19). Zeitlich verzögerte Mitwirkungshandlungen stehen in ihrer Intensität den in § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG genannten Regelbeispielen nicht annähernd gleich (vgl. BayVGH, Beschl. v. 09.05.2018 – 10 CE 18.738 –, a.a.O. RdNr. 8).

29 Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat es der Antragsteller nicht zu vertreten, dass sein Aufenthalt derzeit nicht beendet werden kann. Er hat – wie von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 28.05.2018 gefordert – bei der afghanischen Botschaft die Ausstellung eines Reisepasses beantragt und für die Vorsprache in der Botschaft aufgrund seiner Anfrage vom 12.07.2018 einen Termin am 03.12.2018 erhalten. Darüber hinaus hat er sich mit E-Mail vom 06.07.2018 bei der afghanischen Botschaft nach Möglichkeiten der Beschaffung von Identitätspapieren erkundigt. Schließlich hat er mit der Antragsschrift vom 02.10.2018 die Tazkira vom 27.07.2015 vorgelegt. Weitere Mitwirkungshandlungen, die von der Antragsgegnerin gefordert, vom Antragsteller aber nicht geleistet wurden, sind nicht ersichtlich. Dass die genannten Mitwirkungshandlungen nicht vollständig innerhalb der mit Schreiben vom 28.05.2018 gesetzten Frist von einem Monat nach Erhalt vorgenommen wurden, ist ohne Belang.

30 bb) Dass ein Ausschlussgrund nach § 60a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 oder 3 AufenthG vorliegt, macht auch die Antragsgegnerin nicht geltend.

31 c) Zu Unrecht meint die Antragsgegnerin, die Erteilung einer Ausbildungsduldung scheitere auch deshalb, weil konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstünden.

32 Mit der Tatbestandsvoraussetzung, dass konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen, sollen die Fälle aus dem Anwendungsbereich des Rechtsanspruchs auf Ausbildungsduldung ausgenommen werden, in denen die Abschiebung bereits konkret vorbereitet wird. Konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung stehen bevor, sobald die für den jeweiligen Ausländer zuständige Ausländerbehörde erstmals zielgerichtet und konkret tätig geworden ist, um die grundsätzlich mögliche Abschiebung einzuleiten, ohne dass bereits ein bestimmter Zeitpunkt für die Abschiebung feststehen muss (vgl. BayVGH, Beschl. v. 30.01.2019 – 19 CE 18.1725 –, a.a.O. RdNr. 16; Beschl. d. Senats v. 01.04.2019 – 2 M 110/18 –). Der Ausschlussgrund erfasst alle Maßnahmen, die bei typisierender Betrachtung in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zu einer beabsichtigten Abschiebung stehen (VGH BW, Beschl. v. 13.10.2016 – 11 S 1991/16 –, juris RdNr. 21; NdsOVG, Beschl. v. 09.12.2016 – 8 ME 184/16 –, juris RdNr. 8; OVG NW, Beschl. v. 13.03.2017 – 18 B 148/17 –, juris RdNr. 19). Hierzu gehören die Beantragung eines Pass(ersatz) papiers, die Terminierung der Abschiebung oder der Lauf eines Verfahrens zur Dublin-Überstellung (vgl. BTDrs. 18/9090, S. 25). Ferner kommen die Kontaktaufnahme mit der deutschen Auslandsvertretung im Abschiebezielstaat zur Vorbereitung der Abschiebung, die Erstellung eines Rückübernahmeersuchens, das Abschiebungsersuchen der Ausländerbehörde gegenüber der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen Behörde oder die Veranlassung einer erforderlichen ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit oder die Beantragung von Abschiebungshaft in Betracht (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 30.08.2018 – 13 ME 298/18 –, juris RdNr. 10; Beschl. d. Senats v. 01.04.2019 – 2 M 110/18 –). Für die Beurteilung der Frage, ob konkrete Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung bevorstehen, ist maßgeblich auf den Zeitpunkt der Beantragung einer zeitnah aufzunehmenden, konkret bezeichneten Berufsausbildung abzustellen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 30.01.2019 – 19 CE 18.1725 –, a.a.O. RdNr. 18; OVG SH, Beschl. v. 28.02.2019 – 4 MB 132/18 –, juris RdNr. 7; Beschl. d. Senats v. 01.04.2019 – 2 M 110/18 –).

33 Hiernach kommt es für die Frage, ob der Erteilung der Ausbildungsduldung i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG bevorstehende Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen, auf die Sachlage am 05.07.2018 an. Am diesem Tag beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Ausbildungsduldung für eine am 01.08.2018 beginnende Ausbildung zum Fachmann für Systemgastronomie unter Beifügung eines Berufsausbildungsvertrags vom 04.07.2018 sowie eine Mitteilung der Industrie- und Handelskammer G-Stadt vom 04.07.2018 über die Eintragung des Berufsbildungsvertrages in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse. Zu diesem Zeitpunkt standen konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevor. Die an den Antragsteller ergangene Aufforderung, sich bei seiner Heimatbotschaft vorzustellen, damit Rückreisedokumente erstellt werden können, gehört entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht zu den von § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG erfassten Vorbereitungshandlungen, da zwischen dieser Aufforderung und einer möglichen Abschiebung typischerweise noch ein längerer Zeitraum liegt. Auch die Übermittlung der Information über die Ausreisepflicht des Antragstellers am 05.07.2018 an das Referat Zentrales Rückkehrmanagement des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt zählt nicht zu den relevanten Vorbereitungshandlungen, da auch hiernach eine Abschiebung des Antragstellers noch völlig ungewiss war. Zudem ist es für ein "Bevorstehen" i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG erforderlich, dass die 1Ausländerbehörde bereits vor der Antragstellung Maßnahmen zur Durchsetzung der Ausreisepflicht in die Wege geleitet hat. Das ist im vorliegenden Fall, in dem nach Aktenlage am 05.07.2018 sowohl die
Antragstellung als auch die Information des Referats Zentrales Rückkehrmanagement erfolgte, zumindest fraglich. [...]

36 Der Antragsteller hat den hiernach erforderlichen Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis. Die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG steht zwar grundsätzlich im Ermessen der Ausländerbehörde. Soweit jedoch alle übrigen Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG für die Erteilung einer Ausbildungsduldung vorliegen, ist dieses Ermessen im Regelfall aber auf "Null" reduziert. Die in § 60a Abs. 2 Satz 4, Abs. 6 AufenthG erfassten Lebenssachverhalte sind (spezialgesetzlich) abschließend geregelt. Diese Regelungen sind auch bei der Ermessensausübung nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG als ermessensleitend zu beachten. Es hieße den Willen des Gesetzgebers, einen gebundenen Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung zu schaffen, zu konterkarieren, würden die in § 60a Abs. 2 Satz 4, Abs. 6 AufenthG detailliert geregelten Anspruchs- und Ausschlussvoraussetzungen im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 4 Abs. 3 AufenthG mit anderem Gewicht und anderer Zielrichtung in das Ermessen der Behörde eingestellt werden können (vgl. HessVGH, Beschl. v. 15.02.2018 – 3 B 2137/17 –, juris 11 RdNr. 12; Beschl. d. Senats v. 23.10.2018 – 2 M 112/18 –, a.a.O. RdNr. 29; Beschl. d. Senats v. 01.04.2019 – 2 M 110/18 –). Unter welchen Voraussetzungen die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden kann, ist im Grundsatz abschließend in § 60a Abs. 6 AufenthG geregelt. Eine Versagung der Beschäftigungserlaubnis aus einwanderungspolitischen Gründen im Rahmen der Ermessensausübung dürfte nur aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles möglich sein, etwa im Hinblick auf eine vorsätzliche Verletzung der Passbeschaffungspflicht, eine mögliche Umgehung der in § 60a Abs. 6 AufenthG normierten Ausschlussgründe oder eine missbräuchliche Ausnutzung der Regelung (vgl. HambOVG, Beschl. v. 05.09.2017 – 1 Bs 175/17 –, a.a.O. RdNr. 25). Die illegale Einreise kann dem sich geduldet im Bundesgebiet aufhaltenden Antragsteller bei der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis demgegenüber nicht entgegengehalten werden. Dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG nur Personen erfassen wollte, die mit Visum eingereist sind oder sich aus anderen Gründen über eine gewisse Zeitspanne rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, deren Aufenthaltsrecht jedoch später entfallen ist, lässt sich dem Wortlaut von § 60a Abs. 2 Satz 4, Abs. 6 AufenthG und den Motiven des Gesetzgebers nicht entnehmen (vgl. HessVGH, Beschl. v. 15.02.2018 – 3 B 2137/17 –, a.a.O. RdNr. 12 ff., entgegen HessVGH, Beschl. v. 21.04.2017 – 3 B 826/17, 3 D 828/17 – juris RdNr. 11). Umstände, die unter Beachtung dieser Grundsätze im konkreten Fall gegen die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Vermutung der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe sich lediglich in die Bundesrepublik begeben, um  sich unter Umgehung der Visumsvorschriften über die Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung einen "rechtmäßigen Aufenthalt" in Deutschland zu verschaffen, rechtfertigt die Ablehnung der Beschäftigungserlaubnis jedenfalls nicht, zumal auch wenig dafür spricht, dass der Antragsteller tatsächlich gezielt mit der Absicht der Aufnahme einer Ausbildung unter Umgehung des Visumverfahrens eingereist ist. [...]