OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.05.2019 - 11 N 89.18 - asyl.net: M27253
https://www.asyl.net/rsdb/M27253
Leitsatz:

Familiennachzug einer an Demenz leidenden älteren Frau zu ihren Kindern:

1. Ob eine Person auf eine in Deutschland zu leistende familiäre Lebenshilfe ihrer Kinder angewiesen ist, hängt vom Ausmaß des alters- oder krankheitsbedingten Autonomieverlusts ab. Ein solcher kann auch bei einer demenzbedingten Vergesslichkeit vorliegen, da diese zu erheblichen Behinderungen und ernstzunehmenden Gefahrensituationen im Alltag führen kann. Es ist nicht notwendig, dass der nachziehenden Person elementarste Verrichtungen wie Aufstehen, Essen, Trinken und Toilettengänge nicht mehr möglich sind.

2. Allein der Umstand, dass es für die pflegebedürftige Person noch nicht zu einem wirklich gravierenden Zwischenfall gekommen ist rechtfertigt nicht die Annahme, dass sie in hinreichender Weise betreut würde und ihr Wunsch, familiäre Lebenshilfe in Deutschland in Anspruch zu nehmen, nicht schutzwürdig wäre.

3. Das Argument, für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte müsse der Gesundheitszustand so schlecht sein, dass auch die in Deutschland vorhandenen familiären Betreuungsmöglichkeiten nicht ausreichend seien, würde dazu führen, dass jeder Nachzugsanspruch sich verneinen ließe.

4. Eine Ermessensreduzierung auf Null kann mit dem durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten und deshalb hoch zu gewichtenden Interesse der nachziehenden Person an einer Pflege und Betreuung durch ihre Familie begründet werden.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Entscheidung vom 18.04.2013 - 10 C 10.12 (= ASYLMAGAZIN 7-8/2013, S. 253 f.) - asyl.net: M20847)

Schlagwörter: ältere Person, Sonstige Familienangehörige, Krankheit, Demenz, Familiennachzug, außergewöhnliche Härte, familiäre Lebensgemeinschaft, familiäre Lebenshilfe, Pflegebedürftigkeit, Pflege, Familie, familiäre Beistandsgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

5 2.2. Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand der Beklagten, es werde nicht deutlich, inwiefern die Leiden der Klägerin über das übliche Maß hinausgingen und dementsprechend das Schicksal der Klägerin im Vergleich zu anderen in der Türkei lebenden älteren Personen mit Kindern in Deutschland als außergewöhnlich hart zu bezeichnen sei. Denn die Frage, ob die Klägerin auf eine in Deutschland zu leistende familiäre Lebenshilfe ihrer Kinder angewiesen ist, hängt nicht davon ab, ob die für ihren Autonomieverlust verantwortlich zeichnende Erkrankung bezogen auf ihr Alter selten oder untypisch ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 10/12 –, Rn. 38, juris) ist nicht entsprechend zu differenzieren, sondern vielmehr danach zu fragen, ob der "alters- oder krankheitsbedingte" Autonomieverlust soweit fortgeschritten ist, dass er die Inanspruchnahme familiärer Lebenshilfe im Inland rechtfertigt. [...]

7 2.3. Die von der Beklagten weiterhin aufgeworfene Frage, wie die Betreuung der Klägerin in der Türkei gegenwärtig geregelt sei, beantwortet sich ebenfalls anhand der Darlegungen des Verwaltungsgerichts, des angeführten ärztlichen Berichts des Dr. S. sowie der Angaben ihres Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung. [...] Allein der Umstand, dass es für die Klägerin dort bislang nicht zu einem wirklich gravierenden Zwischenfall gekommen ist, rechtfertigt noch nicht die Annahme, dass sie dort in einer ihren Autonomieverlust hinreichend ausgleichenden Weise betreut würde und ihr Wunsch, familiäre Lebenshilfe in Deutschland in Anspruch zu nehmen, nicht schutzwürdig wäre. [...]

8 [...] Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Argumentation des Verwaltungsgericht auch nicht unschlüssig, soweit es davon ausgeht, dass die Klägerin zwar noch aufstehen, essen, trinken und Toilettengänge verrichten könne, gleichwohl aber einen für den zuerkannten Anspruch hinreichenden Autonomieverlust annimmt. Denn das Verwaltungsgericht durfte gestützt auf die vorliegenden ärztlichen Atteste jedenfalls davon ausgehen, dass die demenzbedingte Vergesslichkeit der Klägerin sie im Alltag stark behindert und auch zu ernstzunehmenden Gefahrensituationen, etwa infolge Vergessens der Medikamenteneinnahme, führen kann. Ein die Inanspruchnahme inländischer familiärer Lebenshilfe rechtfertigender Autonomieverlust muss nicht notwendig darin liegen, dass dem nachzugswilligen Ausländer selbst einfachste elementare Verrichtungen nicht mehr gelingen.

9 2.4. Die Beklagte zeigt auch nicht auf, dass die in Deutschland vorhandenen familiären Betreuungsmöglichkeiten für die Klägerin nicht ausreichend seien. Ihre Auffassung, für die Klägerin sei in Deutschland eine dauerhafte Pflege durch eine geschulte Person erforderlich, wenn sie sich denn in einem derart schlechten Gesundheitszustand befinde, wie es für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte erforderlich sei, würde darauf hinauslaufen, dass sich ein Nachzugsanspruch prinzipiell mit der Argumentation verneinen ließe, dass der Wunsch nach Inanspruchnahme familiärer Lebenshilfe zwar nachvollziehbar sei, diese jedoch nicht ausreiche. [...]

12 4. Die Einwände der Beklagten greifen auch nicht durch, soweit sie sich gegen die verwaltungsgerichtliche Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null richten. Dass sich das Verwaltungsgericht zur Begründung einer Ermessensreduzierung auf Null darauf gestützt hat, dass das Interesse der Klägerin an einer Pflege und Betreuung durch ihre Söhne durch Art. 6 Abs. 1 GG sowie Art. 8 EMRK geschützt sei und dadurch hohes Gewicht habe, ist nicht zu beanstanden. [...]