BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 28.03.2019 - 1 C 9.18 - asyl.net: M27266
https://www.asyl.net/rsdb/M27266
Leitsatz:

Eheliche Lebensgemeinschaft keine Voraussetzung für abgeleitetes Aufenthaltsrecht:

"1. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG hängt nicht vom Fortbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft ab. Für ein Begleiten im Sinne des § 3 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG genügt nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft ein gleichzeitiger Aufenthalt der Eheleute im Aufnahmemitgliedstaat (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015 - C-218/14, Singh - Rn. 54).

2. Verlässt ein Unionsbürger nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft das Bundesgebiet, erlischt damit das abgeleitete unionsrechtliche Aufenthaltsrecht seines drittstaatsangehörigen Ehegatten (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015 - C-218/14, Singh - Rn. 58).

3. Kehrt der Unionsbürger später in das Bundesgebiet zurück, kann sich der hier verbliebene drittstaatsangehörige Ehegatte - auch wenn die Eheleute weiterhin getrennt leben - wieder auf ein abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht berufen."

(Amtliche Leitsätze unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015 - C-218/14, Singh)

Schlagwörter: Verlust des Freizügigkeitsrechts, drittstaatsangehöriger Ehegatte, eheliche Lebensgemeinschaft, Trennung, Scheidung, Wiedereinreise, Begleiten, Familienangehörige,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

[...]

a) Der Kläger war bis zur Rechtskraft der Scheidung "Ehegatte" einer Unionsbürgerin. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) kann bei der Einstufung eines Ehegatten als Familienangehöriger eines Unionsbürgers das eheliche Band nicht als aufgelöst angesehen werden, solange dies nicht durch eine zuständige Stelle ausgesprochen worden ist, was bei Ehegatten, die lediglich voneinander getrennt leben, nicht der Fall ist, selbst wenn sie die Absicht haben, sich später scheiden zu lassen (EuGH, Urteil vom 8. November 2012 - C-40/11 - Rn. 58 f.).

b) Der Kläger erfüllte bei Scheidung auch das Tatbestandsmerkmal des "Begleitens". Hierbei handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der sich (u.a.) in Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG findet und in Anbetracht des Kontextes und der Ziele der Richtlinie 2004/38/EG nicht eng ausgelegt und keineswegs seiner praktischen Wirksamkeit beraubt werden darf (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008 - C-127/08 [ECLI:EU:C:2008:449], Metock u.a. - Rn. 84).

aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH muss der Ehegatte eines Unionsbürgers nicht notwendigerweise ständig bei dem Unionsbürger wohnen, um Inhaber eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zu sein (EuGH, Urteil vom 8. November 2012 - C-40/11 - Rn. 58 f.). Die Voraussetzung, dass er den Unionsbürger "begleiten" oder ihm "nachziehen" muss, ist so zu verstehen, dass sie nicht auf die Verpflichtung der Eheleute abstellt, unter demselben Dach zusammenzuwohnen, sondern auf diejenige, dass beide in demselben Mitgliedstaat bleiben, in dem der Ehegatte, der Unionsbürger ist, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht. [...]

bb) In Anwendung dieser vom EuGH entwickelten Grundsätze zur Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG hat der Kläger Ende 2012 mit der gemeinsamen Einreise der Eheleute zum Zwecke der Erwerbstätigkeit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erworben. Dieses ist nicht schon durch die spätere Trennung der Eheleute, wohl aber - wie das Berufungsgericht zutreffend festgestellt hat - im März 2014 mit dem Wegzug der Ehefrau erloschen. Denn damit war Deutschland für die Ehefrau des Klägers als Unionsbürgerin nicht mehr Aufnahmemitgliedstaat im Sinne des Art. 2 Nr. 3 Richtlinie 2004/38/EG. [...]

Nicht im Einklang mit dem Unionsrecht steht indes die Auffassung des Berufungsgerichts, dass im August 2015 mit der Rückkehr der Ehefrau - selbst bei deren unterstellter Freizügigkeitsberechtigung - ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Klägers schon deshalb nicht neu entstehen konnte, weil es an der Wiederaufnahme einer ehelichen Lebensgemeinschaft fehlte. Nach der vorstehend dargelegten Rechtsprechung des EuGH hängt das abgeleitete Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers nicht vom Fortbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft ab. Vielmehr genügt nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft ein gleichzeitiger Aufenthalt der Eheleute im Aufnahmemitgliedstaat. Entsprechend ist der - aus dem Unionsrecht in das nationale Recht übernommene - Begriff des "Begleitens oder Nachziehens" auszulegen. Dem (erneuten) Entstehen eines akzessorischen Aufenthaltsrechts steht auch nicht entgegen, dass der Kläger Deutschland nicht verlassen hatte und damit im Zeitpunkt der Wiedereinreise seiner Ehefrau bereits hier lebte, da es nach der Rechtsprechung des EuGH für das abgeleitete Aufenthaltsrecht nicht darauf ankommt, in welcher Reihenfolge der Unionsbürger und seine Familienangehörigen ihren Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nehmen. [...]