OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 21.05.2019 - 1 B 86/19 - asyl.net: M27278
https://www.asyl.net/rsdb/M27278
Leitsatz:

Wissenschaftliche Grundlage der Altersfeststellung:

"Der Verweis des Antragstellers auf die australische Studie von Bassed u.a. aus dem Jahr 2011 (Forensic Science Medicine and Pathology (2011) 7, 148-154) vermag die dem streitgegenständlichen Altersfeststellungsgutachten zugrunde liegende Annahme, das Stadium 3c der Claviculaossifikation belege die Vollendung des 19. Lebensjahres, nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Inobhutnahme, Altersfeststellung, minderjährig, unbegleitete Minderjährige,
Normen: SGB VII § 42,
Auszüge:

[...]

Diese Annahme wird durch das Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt. Weder die vom Antragsteller zitierte australische Studie von Bassed u.a. aus dem Jahr 2011 noch die vom Antragsteller angeführte schwedische Studie von Mostad und Tamsen aus dem Jahr 2018 sind geeignet, die Validität der im vorliegenden Gutachten angewandten Methode zur Altersschätzung nachhaltig zu erschüttern:

1. Das Altersfeststellungsgutachten des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Münster vom 27.08.2018 gelangt in der Gesamtschau der vier am 09.08.2018 durchgeführten Untersuchungen (allgemeine körperliche Untersuchung auf entwicklungsbeschleunigende Erkrankungen, Röntgenuntersuchung der linken Hand, CT-Untersuchung der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke, zahnärztliche Untersuchung mit Orthopantomogramm), insbesondere unter Berücksichtigung der dritten Untersuchung, zu einem Lebensalter von mindestens 19 Jahren am Untersuchungstag. Der Senat hat in seinem Beschluss vom 04.06.2018 (Az.: 1 B 53/18, veröffentlicht bei juris) festgestellt, dass diese vier Untersuchungen, die auch den "Empfehlungen für die Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren" der AGFAD der DGRM entsprechen, Stand der Fachwissenschaft und damit geeignet sind, das Mindestlebensalter hinreichend verlässlich festzustellen. Daran hält der Senat auch weiterhin fest (vgl. z.B. Beschl. des Senats vom 10.05.2019 – 1 B 56/19).

2. Der Verweis des Antragstellers auf die australische Studie von Bassed u.a. aus dem Jahr 2011 (Forensic Science Medicine and Pathology (2011) 7, 148-154) vermag die dem streitgegenständlichen Altersfeststellungsgutachten zugrunde liegende Annahme, das Stadium 3c der Claviculaossifikation belege die Vollendung des 19. Lebensjahres, nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen.

Die gutachterlichen Ausführungen eines Sachverständigen müssen im Hinblick auf Grundlagen, Methodik und Inhalt des Gutachtens den aktuellen Stand der anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnis in dem Fachgebiet widerspiegeln. Ein solcher Stand wissenschaftlicher bzw. vorliegend medizinischer Erkenntnisse liegt vor, wenn die große Mehrheit der einschlägigen Wissenschaftler und Ärzte die von dem Gutachter herangezogene Methode befürwortet und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die Methode Konsens besteht. Zusätzlich ist insoweit von Bedeutung, inwieweit sich unter Fachleuten konsensfähige medizinische Erkenntnisse bereits in ärztlichen Leitlinien, Empfehlungen oder Stellungnahmen von Fachgesellschaften niedergeschlagen haben (vgl. Beschluss des Senats vom 04.06.2018 – 1 B 53/18 – juris m.w.N.).

Der aktuelle Stand der anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnis auf dem Gebiet der forensischen Altersdiagnostik ergibt sich aus den aktualisierten Empfehlungen für Altersschätzungen bei Lebenden im Strafverfahren der AGFAD vom 14.03.2008 (vgl. bereits Beschluss des Senats vom 04.06.2018 – 1 B 53/18 – juris m.w.N.; die Empfehlungen sind im Internet abrufbar unter www.dgrm.de/fileadmin/PDF/AG_FAD/empfehlungen_strafverfahren.pdf; vgl. hierzu auch Schmeling u.a., Forensische Altersdiagnostik Dt. Ärzteblatt 2016, 44 ff.). Dieser Empfehlung liegt u.a. die Annahme zu Grunde, dass das Stadium 3c der Claviculaossifikation die Vollendung des 19. Lebensjahres belege (vgl. Schmeling u.a., Forensische Altersdiagnostik, Dt. Ärzteblatt 2016, 44 (47)). Diese Annahme entspricht – soweit ersichtlich – auch der ganz überwiegenden Auffassung. So haben die Gutachter Prof. Dr. Schmeling und Prof. Dr. Schmidt, von der Antragsgegnerin eine Stellungnahme zu der Studie von Bassed u.a. gebeten, ausgeführt, dass diese Studie im Widerspruch zur übrigen umfangreichen Literatur zur Thematik stehe. Diese umfasse mehr als 40 Studien, in denen mehr als 15.000 Personen untersucht worden seien. Eine Übersicht über diese Studien findet sich ausweislich Schmeling u.a., Forensische Altersdiagnostik, Dt. Ärzteblatt 2016, 44 (47) bei Schmeling u.a., Studienlage zum zeitlichen Verlauf der Schlüsselbeinossifikation, Rechtsmedizin 2014, 467-474. In einer Masterarbeit von Prof. Dr. Schmeling ("Die aktuelle medizinethische Debatte über forensische Altersdiagnostik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen"; übersandt von der Antragsgegnerin und abrufbar unter www.dgrm.de/fileadmin/PDF/AG_FAD/ masterarbeit_schmeling.pdf) wird ergänzend ausgeführt, Hermetet u.a. hätten in einer kürzlich publizierten systematischen Metaanalyse ("Forensic age estimation using computed tomography images", International Journal of Legal Medicine (2018) 132, 1415 - 1425) Dünnschicht-CT-Studien zur Ossifikation der mittelliniennahen Schlüsselbeinepiphysen zur Frage der Nachweisbarkeit der Vollendung des 18. Lebensjahrs ausgewertet. Alle Personen mit den Stadien 4 und 5 seien über 18 Jahre alt gewesen. Ebenso seien alle männlichen Personen mit einem Stadium 3c über 18 Jahre alt gewesen. Lediglich in einer Studie von Pattamapaspong u.a. aus dem Jahr 2015 habe das Altersminimum für das Stadium 3c bei weiblichen Personen unterhalb des 18. Lebensjahres gelegen. Hermetet u.a. hätten die Möglichkeit diskutiert, dass es sich bei dem von Pattamapaspong u.a. mitgeteilten Altersminimum um einen statistischen Ausreißer aufgrund einer Fehlbeurteilung handele.

3. Die vom Antragsteller zitierte Studie der schwedischen Wissenschaftler Mostad und Tamsen, der zu Folge das Risiko der versehentlichen Fehleinschätzung eines Minderjährigen als volljährig 33 % betrage, ist vorliegend schon deshalb nicht von Belang, weil sie sich – wie der Antragsteller selbst einräumt – auf eine andere Begutachtungsmethode (nämlich: Röntgen der Weisheitszähne und des Oberschenkelknochens) bezieht als sie vorliegend vom Universitätsklinikum Münster angewandt wurde (körperliche Untersuchung, Röntgenaufnahme des Gebisses und der linken Hand, CT-Untersuchung der Schlüsselbeine). Die Behauptung der Beschwerde, es "dürfte die vergleichbare Fehleranfälligkeit auch für die hier eingesetzte Untersuchungsmethode gelten" ist rein spekulativ. Die Studie enthält für eine solche Verallgemeinerung keine Stütze. Anders als der Antragsteller offenbar meint, kann sie nicht als Fundamentalkritik an jeder Form von medizinischer Altersfeststellung verstanden werden. Die Autoren betonen im Gegenteil in einem im International Journal of Legal Medicine (2019) 133, 613 – 623 veröffentlichten Aufsatz, dass sie trotz der Zweifel, die ihre Forschungsergebnisse bezüglich der in Schweden angewandten Methode aufwerfen, glauben, dass "medical age assessment can be a well-functioning tool when observation methods are properly selected and validated and computational methods are selected and performed correctly." Sie betonen, dass Gegenstand ihrer Untersuchung nur die "procedure, which in practice has been functioned as a classification rule in Sweden" war (vgl. International Journal of Legal Medicine [2019], 133, 613 [622]). Für die Validität anderer Methoden der medizinischen Alterseinschätzung ist die Studie daher unergiebig. [...]