VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 05.04.2019 - 15 A 3569/17 As SN - Asylmagazin 6-7/2019, S. 241 f. - asyl.net: M27301
https://www.asyl.net/rsdb/M27301
Leitsatz:

Flüchtlingsrelevante Verfolgung von Frauen im eritreischen Nationaldienst als soziale Gruppe:

1. Frauen, die im eritreischen Nationaldienst sexueller Gewalt durch Vorgesetzte ausgesetzt sein können, bilden eine soziale Gruppe. Zur geschlechtsspezifischen Verfolgung muss keine maßgebende politische Motivation hinzutreten (ausdrücklich entgegen VG Köln, Urteil vom 12.07.2018 - 8 K 15907/17.A - asyl.net: M27300). Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 S. 1 AsylG sowie aus der Gesetzesbegründung.

2. Ohnehin liegt Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung immer auch der Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung zugrunde, da so der unterprivilegierte Status der Frauen in patriarchalisch, totalitär-theokratischen Ordnungen festgeschrieben wird, der sich gegen die Überzeugungen von Frauen richtet. Dies ist im totalitären Eritrea der Fall, da sexuelle Gewalt gegen Frauen weit verbreitet ist und nicht verfolgt wird. Sexuelle Übergriffe sind so häufig, dass nicht von einem sog. Amtswalterexzess durch vereinzelte und spontane Vorgänge gesprochen werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Frauen, Nationaldienst, geschlechtsspezifische Verfolgung, Upgrade-Klage, Militärdienst, Flüchtlingseigenschaft, sexueller Missbrauch, Straflosigkeit, soziale Gruppe, Diskriminierung, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

28,29 d) Die Klägerin gehört nach den Erkenntnissen des Gerichts zur sozialen Gruppe von Frauen, die im Militärdienst sexueller Gewalt ihrer Vorgesetzten ausgesetzt sein können. Der Verfolgungsgrund der geschlechtsspezifischen Verfolgung wird nach § 3 a Abs. 2 Nr. 1 und § 3 b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 AsylG als Verfolgung einer sozialen Gruppe angesehen (vgl. näher Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3b Rn. 22; Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG/AsylG, § 3b Rn.12 ff.; ebenso VG Schwerin, Urteile vom 3. Februar 2017 - 15 A 3692/16 As SN -, Umdruck, S. 10 und - 15 A 3443/16 As SN - Umdruck, S. 10 je mwN; VG Schwerin, Urteil vom 08. Dezember 2017 – 15 A 1278/17 As SN –, juris, Rn. 36 ff.).

30-32 aa) Soweit in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, dass zu diesem Tatbestand eine maßgebende politische Motivation hinzutreten muss (so VG Köln, Urteil vom 12. Juli 2018 – 8 K 15907/17.A –, juris LS 4 und Rn. 37 ff.), ist dies nach dem Wortlaut des Asylgesetzes unzutreffend. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist "ein Ausländer Flüchtling, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen [...] seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Die Definition des Verfolgungsgrundes wird in § 3 b Abs. 1 [nach] Nr. 4 AsylG gegeben, wenn es dort heißt: "als bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; […] eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft; […]." Ein weitergehender besonderer politischer Grund wird dort nicht gefordert. Dies würde auch den Intentionen des Gesetzgebers widersprechen. In § 60 Abs. 1 Satz 3 a. F. des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vom 25. Februar 2008 (BGBl. I. 162) war bestimmt, dass eine

33 "Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe […] auch dann vorliegen [kann], wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft."

34 Dabei ging diese Bestimmung zulässigerweise über den Mindeststandard des Art. 10 Abs. 1 d) der damals maßgebenden Richtlinie 2004/93/EG hinaus, weil danach geschlechtsbezogene Aspekte für sich allein genommen nicht ausreichten, um die Bestimmung anzuwenden. [...]

41,42 bb) Im Übrigen liegt einer Verfolgung durch Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung auch der Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung zugrunde. Durch solche politischen Ordnungen wird der unterprivilegierte Status der Frauen in patriarchalisch, totalitär-theokratischen Ordnungen festgeschrieben, der sich gegen die Überzeugungen der Frauen richtet (dazu Marx, AsylG, § 3 b Rn. 28, 33, 34). Gerade in Eritrea als totalitärem System ist dies auch der Fall: Nach einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist sexuelle Gewalt gegen Frauen in Eritrea weit verbreitet und wird nicht verfolgt (vgl. näher SFH, Schnellrecherche vom 13. Februar 2018 zu Eritrea: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 2 ff.).

43,44 e) Frauen in Eritrea werden nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen im Nationaldienst häufig durch (militärische) Vorgesetzte sexuell missbraucht (ebenso bereits VG Schwerin, Urteil vom 08. Dezember 2017 – 15 A 1278/17 As SN –, juris Rn. 36 ff. und vom 3. Februar 2017 - 15 A 3692/16 As SN -, Umdruck, S. 10 und - 15 A 3443/16 As SN Umdruck, S. 10 je mwN jeweils auch juris; ebenso jetzt auch VG C-Stadt, Urteil vom 13. Februar 2019 – 19 A 984/18 –, juris Rn. 54 ff. unter Hinweis auf Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 21. September 2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris Rn. 46; VG Düsseldorf, Urteil vom 02. August 2018 – 6 K 3894/17.A –, juris LS und Rn. 51 ff.; VG Arnsberg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 12 K 3982/16.A –, juris LS 2 und Rn. 43 ff.; a. A., da eine politische Motivation fehle: VG Köln, Urteil vom 12. Juli 2018 – 8 K 15907/17.A –, juris Rn. 37 f.). [...]

64 a) Aus einer Gesamtschau der genannten Erkenntnisquellen folgt die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin im Nationaldienst Eritreas sexuellen Übergriffen ausgesetzt sein wird. Der Klägerin ist daher die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil ihr sie sich nach ihrem glaubhaften Vortrag trotz ihrer damaligen Minderjährigkeit die Einziehung in den Nationaldienst drohte. Bei Rückkehr müsste sie jedenfalls mit ihrer Einziehung zum Nationaldienst rechnen, wobei ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mindestens eine Verletzung ihres sexuellen Selbstbestimmungsrechtes drohen würde.

65 b) Ohne dass hier abschließend zu klären wäre, ob Frauen in Eritrea regelmäßig Opfer sexueller Gewalt im Nationaldienst werden, ist darauf hinzuweisen, dass zu Verfolgungshandlungen nach § 3a Nr. 6 AsylG auch solche zählen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Dazu gehören nach einhelliger Ansicht auch Vergewaltigungen (vgl. nur Marx, AsylG, § 3 a Rn. 46 mwN). Diesen Handlungen wird in Eritrea nach den vorliegenden Erkenntnisquellen staatlicherseits nicht entgegengetreten, so dass § 3 c Nr. 3 AsylG einschlägig ist. Nach dem Eindruck des Gerichts sind nach den vorliegenden verschiedenen Berichten die sexuellen Übergriffe jedenfalls so häufig, dass nicht von einem sog. Amtswalterexzeß durch vereinzelte und spontane Vorgänge gesprochen werden kann (dazu näher Marx, AsylG § 3d Rn. 39). [...]