VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Beschluss vom 28.05.2019 - 5 K 1494/19 - asyl.net: M27313
https://www.asyl.net/rsdb/M27313
Leitsatz:

In Fällen, in denen die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit § 31 AufenthG nicht vorliegen, weil das deutsche Kind einer in Deutschland wohnenden (drittstaats­angehörigen) Ausländerin und dessen (deutscher) Vater im nahegelegenen Ausland wohnen und dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, die Ausländerin als leibliche und gemeinsam mit dem Vater sorgeberechtigter Mutter jedoch regelmäßig Kontakt mit ihrem Kind pflegt, kommt für die Ausländerin die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in Betracht. Das gilt namentlich dann, wenn der Vater wegen einer schweren und voraussichtlich langwierigen Erkrankung für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge ausfällt und das Kindeswohl die Betreuung durch die Mutter am Wohnort des Kindes erfordert.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Eltern-Kind-Verhältnis, gemeinsames Sorgerecht, außergewöhnliche Härte, Ausweisungsinteresse, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1, AufenthG § 31, AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2,
Auszüge:

[...]

3 [...] Denn nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG setzt die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Deutsche, von dem ein Ausländer sein Aufenthaltsrecht ableitet, hier der am ... 2007 geborene Sohn der Antragstellerin ..., seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Nach der für die gesamte innerstaatliche Rechtsordnung, insbes. auch für das Ausländerrecht (vgl. OVG Berl.-Brandenb., Beschl. v. 20.05.2008 - OVG 2 S 6.08 -, juris, m.w.N.; VG Freiburg, Beschl. v. 23.01.2014 - 4 K 3/17 -, juris), geltenden Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Nachdem der Sohn der Antragstellerin ... seit Januar 2018 in der Schweiz lebt und dort auch nach dem Vortrag der Antragstellerin bleiben soll - letztlich strebt auch die Antragstellerin an, dorthin zu ziehen, wenn die schweizerischen Behörden dies erlauben -, kann nicht zweifelhaft sein, dass er in der Schweiz und nicht im Bundesgebiet seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Aus dem gleichen Grund kommt auch ein Anspruch nach den §§ 28 Abs. 3 und 31 AufenthG nicht in Betracht. [...]

4 Allerdings dürfte die Antragstellerin hier einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG haben. Nach dieser Vorschrift kann eine Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 AufenthG verlängert werden, wenn auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls das Verlassen des Bundesgebiets für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um einen eigenständigen, von der Regelung über ein nur vorübergehendes Aufenthaltsrecht in § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG unabhängigen Verlängerungstatbestand (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, Teil 1, § 25 Rn. 68 ff., m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Nov. 2018, Bd. 1, A 1, § 25 Rn. 98 ff., m.w.N; zur Anwendbarkeit dieser Vorschrift in Fällen der Verlängerung einer auf Grundlage des § 28 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis vgl. auch VwV-AufenthG Nr. 28.3.3). Der hierfür erforderliche Antrag ist von der Antragstellerin durch den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, der auch einen Verlängerungsantrag nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG umfasst, gestellt worden; im Übrigen hat der frühere Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin für sie einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gestellt, wenngleich nicht speziell nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, sondern nach § 25 Abs. 5 AufenthG (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.05.2018 - 11 S 1810/16 -, juris).

5 Die besonderen Umstände des Einzelfalls liegen hier darin begründet, dass ..., der leibliche Vater des zwölf Jahre alten Sohnes der Antragstellerin, in dessen Haushalt in .../CH dieser Sohn seit Januar 2018 lebt bzw. gelebt hat, aufgrund eines gegen ... 2019 erfolgten ernsthaften Suizidversuchs und damit einhergehenden (wiederholten) Alkoholexzesses als Sorgeberechtigter für diesen Sohn komplett ausfällt. ..., der in der Vergangenheit schon öfter durch extreme Alkoholexzesse aufgefallen ist und der in einer von der Antragstellerin vorgelegten Niederschrift einer Mitarbeiterin des örtlich zuständigen schweizerischen Sozialdienstes über ein am ... 2019 geführtes Gespräch zwischen der Antragstellerin, der Mitarbeiterin des Sozialdienstes und der Leiterin der Schule, die der Sohn der Antragstellerin derzeit besucht, als schwer alkoholkrank beschrieben wird, befindet sich seit dem Suizidversuch entweder noch im Krankenhaus oder in einer sich daran anschließenden psychiatrischen Klinik. Es spricht Alles dafür, dass Herr ... seine Pflichten als Sorgeberechtigter für seinen Sohn allein wegen seiner stationären Unterbringung auch in den folgenden Monaten nicht erfüllen kann. Die Lektüre der oben genannten Gesprächsniederschrift legt es nahe, dass er diesen Pflichten in absehbarer Zukunft voraussichtlich gar nicht mehr nachkommen kann. Herr ... hat sich deshalb mit einer vorläufigen Unterbringung seines Sohnes bei dem in ..., einer Nachbargemeinde von ..., wohnenden Lebensgefährten der Antragstellerin, mit dem die Antragstellerin zusammenziehen will, sobald die schweizerischen Behörden ihr die Erlaubnis dazu erteilen, einverstanden erklärt. Bei dieser Sachlage ist der Sohn der Antragstellerin ganz besonders auf die Anwesenheit, die Fürsorge und den Beistand seiner Mutter, die gegenwärtig allein zur Wahrnehmung der elterlichen Sorge imstande ist, angewiesen.

6 Angesichts dieser tatsächlichen Gegebenheiten würde das Verlassen des Bundesgebiets für die Antragstellerin eine außergewöhnliche Härte bedeuten. Die Annahme einer außergewöhnlichen Härte setzt voraus, dass der Ausländer sich in einer individuellen Sondersituation befindet, aufgrund derer ihn die Aufenthaltsbeendigung deutlich ungleich härter treffen würde als andere Ausländer, die nach denselben rechtlichen Vorschriften ausreisepflichtig sind. Die Beendigung des Aufenthalts muss für den Ausländer bei dieser Vergleichsbetrachtung unzumutbar sein (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 08.02.2007, NVwZ 2007, 844; Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 25 Rn 71, m.w.N.; VG Freiburg, Beschl. v. 21.01.2014, a.a.O.; Zeitler, in: Hypertextkommentar zum Ausländerrecht, Stand: 18.11.2016, § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, Rn. 15 ff.).

7 Die Beziehung der Antragstellerin zu ihrem derzeit allein, das heißt ohne sonstigen elterlichen Beistand, in der Schweiz lebenden Sohn fällt, ohne dass dies weiterer Begründung bedürfte, in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 bis 3 GG. Nach den dramatischen Erlebnissen der letzten Wochen bedarf der Sohn dringend der Anwesenheit und Zuwendung seiner Mutter. In der oben genannten Gesprächsniederschrift ist erwähnt, ... sei, seit er sein (von seinem Vater in trunkenem Zustand, Erg. durch das Gericht) zerstörtes, aktuell unbewohnbares Zuhause gesehen habe, traumatisiert, er sei aus Mitleid hin und her gerissen zwischen dem Vater im Krankenhaus und der Mutter, welche sich aufopfernd um ihn kümmere. Dass die Antragstellerin die notwendige Fürsorge für ihren Sohn in der Schweiz erbringt, anstatt ihn zu sich nach Deutschland zu holen (was für sie voraussichtlich einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG begründen dürfte), beruht auf dem nachvollziehbaren, am Kindeswohl orientierten Grund, dass der Sohn seit mehr als einem Jahr in der Schweiz lebt, dass er dort zur Schule geht und dass er vor allem auch angesichts des Umstands, dass die Antragstellerin selbst plant, so bald wie möglich zu ihrem Lebensgefährten in der Schweiz, bei dem der Sohn vorübergehend untergekommen ist, überzusiedeln, nicht aus seinem inzwischen gewohnten Umfeld gerissen werden soll. Im Fall der Geltung der ablehnenden Entscheidung des Landratsamts im Bescheid vom 20.03.2019 müsste die Antragstellerin zur Erfüllung ihrer Ausreisepflicht vermutlich bis nach Russland zurückkehren. Denn nach § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kann sie ihrer Ausreisepflicht nur dann durch Einreise in einen anderen EU-Mitgliedstaat oder einen anderen Schengen-Staat, also auch die Schweiz, genügen, wenn ihr die Einreise und der Aufenthalt dort erlaubt sind. Ob ihr unter den gegebenen Umständen von den schweizerischen Behörden der Zuzug in die Schweiz erlaubt würde, um sich am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts ihres Sohnes niederzulassen, ist nach dem insoweit unwidersprochenen Vortrag der Antragstellerin, demzufolge die schweizerischen Behörden ihr nur dann ein Einreisevisum erteilen würden, wenn sie einen legalen Aufenthalt in Deutschland nachweise, zumindest dann, wenn es bei der Versagung eines Aufenthaltstitels für die Antragstellerin bleibt, eher wenig wahrscheinlich. Das würde bedeuten, dass die Antragstellerin in ein Land ausreisen müsste, das so weit vom Aufenthaltsort ihres Sohnes entfernt ist, dass ihr die Wahrnehmung ihrer elterlichen Beistandsplichten für längere Zeit nicht möglich wäre. Das wäre in der gegenwärtig sehr schwierigen Situation für sie und vor allem auch für ihren Sohn unzumutbar und mit der Schutzgewährung aus Art. 6 Abs. 1 bis 3 GG unvereinbar. Die Aufrechterhaltung der durch den angegriffenen Bescheid des Landratsamts entstandenen Situation würde hiernach eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG bedeuten. [...]