VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 07.05.2019 - 5 K 2914/19 - asyl.net: M27314
https://www.asyl.net/rsdb/M27314
Leitsatz:

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RFRL i.V.m. § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erfasst regelmäßig nur diejenigen Fälle, in denen der Ausländer bereits bei der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und also vor Erlass einer Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 RFRL über einen gültigen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Schengen-Staats verfügt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, Beurteilungszeitpunkt, Abschiebungsandrohung, Zielstaat, Aufenthaltserlaubnis in einem EU-Staat, Rückführungsrichtlinie,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 50 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

12 Jedoch hat der Antragsteller seine gesetzliche Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG) nicht mit seiner Ausreise nach Italien erfüllt. Zwar ist es für die Erfüllung der Ausreisepflicht unerheblich, ob der Ausländer in sein Heimatland oder einen anderen Staat ausreist. Allerdings reicht die Einreise in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nach § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nur dann zur Erfüllung der Ausreisepflicht aus, wenn dem Ausländer dort Einreise und Aufenthalt erlaubt sind. Macht der Ausländer eine entsprechende Erlaubnis eines Mitgliedstaats geltend, so obliegt es ihm, hierfür den Nachweis zu erbringen. Geschieht dies nicht, bleibt die Ausreisepflicht auch nach der Rückkehr aus dem betreffenden Mitgliedstaat bestehen und vollziehbar (vgl. BeckOK AuslR/Tanneberger, AufenthG, 21. Ed. vom 01.05.2018, § 50 Rn. 6 m.w.N.). [...]

15 dd) Die dem Antragsteller von der Polizeibehörde in ... (questura di ...) am ... 2019  ausgestellte "permesso di soggiorno per stranieri" (Aufenthaltserlaubnis für Ausländer) steht seiner Abschiebung nach Pakistan ebenfalls nicht entgegen. Selbst wenn sie ihm die Einreise und den Aufenthalt nach Italien derzeit i.S.d. § 50 Abs. 3 AufenthG erlauben sollte, führt dies zu keinem Vollstreckungshindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Im Übrigen ist die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids vom 14.01.2015 bestandskräftig geworden und entzieht sich insoweit der weiteren gerichtlichen Prüfung. Die 2019 erteilte italienische Aufenthaltserlaubnis kann sich daher nicht mehr auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung auswirken.

16 Nach § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist der Ausländer grundsätzlich aufzufordern, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet desjenigen Staates zu begeben, in dem ihm Einreise und Aufenthalt erlaubt sind. Sollte diese Regelung hier anwendbar sein, führt sie aber nicht zu einem Vollstreckungshindernis, da Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG (RFRL), dessen Umsetzung § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG dient, eine andere Fallgestaltung als die hier Vorliegende zum Gegenstand hat.

17 Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RFRL sind Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2 RFRL Art. 6 Abs. 1 RFRL Anwendung, wonach eine Rückkehrentscheidung zu treffen ist.

18 Es ist bereits fraglich, ob die vorherige Aufforderung i.S.d. § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Abschiebungsandrohung darstellt. Vertreten wird insoweit, dass die Regelung unmittelbar nur die Ausreiseaufforderung, nicht aber die Abschiebungsandrohung betrifft (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.08.2015 - 18 B 635/14 -, juris Rn. 14; a.A. VG Freiburg, Beschluss vom 01.022016 - 7 K 2404/15 -, juris Rn. 16 m.w.N.; Hoppe, in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 1. Aufl. 2018, § 5 Rn. 461; vgl. auch BeckOK AuslR/Tanneberger, AufenthG, 21. Ed. vom 01.05.2018, § 50 Rn. 7a).

19 Diese umstrittene Frage kann aber dahinstehen, da Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RFRL einen Sachverhalt zum Gegenstand hat, in der der Betroffene bereits bei Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat über einen gültigen Aufenthaltstitel oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats verfügt. Eine derartige Konstellation liegt hier nämlich nicht vor. Der Antragsteller reiste ausweislich des Bescheids des Bundesamts vom ... 2015 am ... 2012 über den Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die nunmehr in Kopie vorgelegte Aufenthaltserlaubnis datiert hingegen vom ... 2019. Dass er zu dem Zeitpunkt seiner ersten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats war, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Bescheid des Bundesamtes ist einschließlich der Abschiebungsandrohung, die die Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 RFRL darstellt, unstreitig bestandskräftig geworden und insoweit der weiteren gerichtlichen Prüfung entzogen.

20 Die Erteilung der italienischen Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Durchführung eines Asylverfahrens - das nach den Angaben des Antragstellers im Verwaltungsverfahren bereits negativ abgeschlossen sein soll - steht der beabsichtigen Abschiebung auch nicht als Vollstreckungshindernis entgegen. Denn insoweit gilt auch, dass die Rückführungsrichtlinie mit dem in ihrem Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 festgelegten gestuften Verfahren (siehe dazu Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG; Stand: Oktober 2015, § 50 AufenthG Rn. 57) nicht die Fälle in den Blick nimmt, bei denen sich ein Asylantragsteller nach erfolglosem Asylverfahren in einem Mitgliedstaat der Vollstreckung seiner Rückkehrverpflichtung dadurch entzieht, dass er sich in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union begibt, um dort infolge einer erneuten Asylantragstellung ein Aufenthaltsrecht für die Durchführung des Verfahrens zu erlangen und sodann unter Berufung auf dieses Aufenthaltsrecht Einwendungen gegen die Rückführung durch den erstgenannten Mitgliedstaat geltend zu machen. [...]