VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 24.09.2018 - 8 A 7823/16 - asyl.net: M27319
https://www.asyl.net/rsdb/M27319
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus dem Irak:

LGBTI (hier ein junger homosexueller Mann) stellen im Irak eine soziale Gruppe dar. Ihnen droht aufgrund der zugeschriebenen oder tatsächlichen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, homosexuell, interne Fluchtalternative, soziale Gruppe, sexuelle Orientierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

a. Homosexuelle Männer, die ihre Homosexualität nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen, unterliegen im Irak einer Gruppenverfolgung. [...]

aa. Grundlage für die Beurteilung der Verfolgungsdichte ist nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Ermittlung der Größe der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe. Dabei sind als Gruppe zunächst die homosexuellen Männer im Irak zugrunde zu legen (unabhängig vom individuellen Verhalten, insbesondere von dem Ausmaß, in dem sie ihre sexuelle Orientierung geheim halten oder "ausleben"). Stehen verlässliche Zahlen nicht zur Verfügung, so kann (und muss) das Gericht die Größe der Gruppe schätzungsweise ermitteln (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15.05, juris, Rn. 25). Hier muss die Kammer auf eine solche Schätzung zurückgreifen, wonach die Gruppe der homosexuellen Männer im Irak ungefähr eine halbe Million Personen umfasst.

Die Kammer geht dabei davon aus, dass der Irak derzeit ca. 38 Millionen Einwohner hat (vgl. Wikipedia zum Lemma "Irak" unter Berufung auf eine Bevölkerungsprojektion der UN mit dem Stand 2017; Auswärtiges Amt, Länderinformationen, Irak, www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/Iaender/irak-node/irak/203976), von denen die Hälfte männlich ist. Die Kammer hält es für sinnvoll für die Ermittlung der Verfolgungsdichte von diesen nur die (potentiell) sexuell aktiven zugrunde zu legen, da die übrigen, sexuell nicht aktiven Männer in deutlich geringerem Maße Gefahr laufen, Opfer von Verfolgungsschlägen zu werden, die an eine erkennbare oder vermutete sexuelle Ausrichtung anknüpfen, auch wenn die identitätsprägende Wirkung der sexuellen Orientierung von der sexuellen Aktivität nicht abhängt (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 7.3.2013, A 9 S 1873/12, juris, Rn. 117). Es erscheint als plausible Näherung, für den Anteil der sexuell Aktiven auf die Alterskohorte der 15-64-Jährigen abzustellen. Deren Anteil an der männlichen Bevölkerung des Irak umfasst schätzungsweise 56 v.H. (vgl. www.lexas.de/naher_osten/irak/index.aspx). Hiervon ausgehend und unter Berücksichtigung von Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 267. Aufl. 2017, Lemma "Homosexualität", wonach 4-5 v. H. der Männer ausschließlich oder überwiegend auf homosexuelles Verhalten festgelegt seien, kommt man insgesamt zu einer Zahl von 425.000 bis 530.000 homosexuell veranlagter und potentiell Homosexualität praktizierender Männer im Irak.

bb. Bei einer wertenden Betrachtung ist eine auf alle diese Männer zielende Verfolgung festzustellen, die für jeden dieser Männer ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit begründet, wenn sie ihre Homosexualität nicht vollständig verbergen:

Dies ergibt sich aber nicht bereits daraus, dass homosexuelle Praktiken als solche durch den irakischen Staat unmittelbar oder mittelbar unter Strafe gestellt wären. Eine Strafbestimmung, die homosexuelle Beziehungen oder homosexuellen Geschlechtsverkehr verböte, existiert im Irak nicht (vgl. u.a. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [Republik Österreich], Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, Wien, 13.3.2018, S. 2 ff.). Soweit es in Auskünften des Auswärtigen Amtes heißt, dass Art. 394 des irakischen Strafgesetzbuches von 1969 in der derzeit anwendbaren Fassung außerehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe stelle und damit mittelbar homosexuelles Leben kriminalisiere, weil das irakische Recht eine gleichgeschlechtliche Ehe nicht vorsehe (nunmehr auch im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak [Stand: Dezember 2018], 12.1.2019, S. 15), kann die Kammer dem nicht folgen. Art. 394 verbietet ausweislich seines übersetzt vorliegenden Wortlauts einverständlichen außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer Frau und auch die einverständliche "Unzucht" jeweils nur, wenn "das Opfer" weniger als 18 Jahre alt ist (vgl. die englischsprachige Übersetzung von Art. 394 des irakischen Strafgesetzbuchs, abrufbar unter www.refworld.org/docid/452524304.html: "Any person who, outside of marriage, has sexual intercourse with a woman with her consent, or commits buggery with a person with their consent, is punishable [...] if the victim is between the ages of 15 and 18.").

Die übrige Erkenntnislage zeigt allerdings, dass eine "hinreichende Verfolgungsdichte" vorliegt. Dabei stützt die Kammer sich auf das folgende allgemeine Lagebild:

Im Länderbericht des Auswärtigen Amtes (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak [Stand: Dezember 2017], 12.2.2018, S. 14) heißt es, dass konservative bzw. radikal-islamische Tendenzen die Entwicklung eines liberal-säkularen Lebensstils im Irak erschwerten. Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert würden, werde Homosexualität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. Homosexuelle lebten ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sähen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es bestehe ein hohes Risiko sozialer Ächtung bis hin zu Ehrenmorden. Konfessionelle Milizen hätten in den letzten Jahren wiederholt LGBTI bedroht und verfolgt und würden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht. Eine polizeiliche Untersuchung sei in den wenigsten Fällen bekannt geworden; die Polizei werde mitunter eher als Bedrohung denn als Schutzmacht wahrgenommen. Staatliche Rückzugsorte gebe es nicht, die Anzahl privater Schutz-Initiativen sei sehr beschränkt. Positiv sei zu bemerken, dass ein "interministerielles Komitee zu LGBTI-Fragen" eingerichtet worden sei, das allerdings seit Mitte 2014 nicht mehr in Erscheinung getreten sei. Mittelfristig solle das Thema im Sinne einer Enttabuisierung auch Gegenstand von Bildungsinhalten werden.

Dem Länderinformationsblatt zum Irak des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 144 f.) lässt sich darüber hinaus entnehmen, dass auch schiitische Milizen Gewalt gegen homosexuelle Männer ausübten, sowie auch gegen Männer, von denen behauptet werde, dass sie homosexuell seien. Es werde von Entführung, Exekution und Folter berichtet. Die zunehmende Gewalt und das damit verbundene Erstarken nichtstaatlicher bewaffneter Akteure habe Berichten zufolge die Schutzbedürftigkeit von Personen, deren sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen, verstärkt. Diese Menschen seien den Meldungen zufolge häufig zahlreichen Formen von Misshandlungen durch verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, einschließlich durch ihre nahen und entfernten Familienangehörigen, das allgemeine gesellschaftliche Umfeld, staatliche Behörden sowie eine Vielzahl bewaffneter Gruppen.

In einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des österreichischen Bundesamtes (vgl. Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, Wien, 13.3.2018, S. 2 ff.) heißt es zur Lage der sexuellen Minderheiten in der Region Kurdistan-Irak und im Irak insgesamt darüber hinaus, dass die Gesetze, die sich mit der "öffentlichen Moral", Sodomie oder der "Ehre" auseinandersetzen, so vage definiert seien, dass sie laufend gegen Mitglieder sexueller Minderheiten eingesetzt werden könnten. Auch komme es im Irak vor, dass nichtstaatliche Akteure, darunter auch Sharia-Richter, Hinrichtungen von Männern und Frauen anordneten, denen gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen vorgeworfen würden. Homosexuelle Beziehungen seien sowohl im sunnitischen als auch im schiitischen Islam streng untersagt. Gesellschaftliche Diskriminierung in den Bereichen Beschäftigung, Beruf und Wohnung aufgrund der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität oder des unkonventionellen Aussehens sei im Irak weit verbreitet. Sexuelle Minderheiten im Irak und in der Region Kurdistan litten unter täglichen Menschenrechtsverletzungen, die von bewaffneten Gruppen begangen würden, von denen einige von der irakischen Regierung selbst unterstützt würden. Einige Quellen besagten, dass die Situation in der Republik Kurdistan-Irak, die vergleichsweise als liberal angesehen werde, besser sei, dass es jedoch auch in der Kurdenregion für Mitglieder sexueller Minderheiten dennoch keineswegs sicher sei. Unter anderem würden auch die kurdischen Sicherheitskräfte LGBT-Personen verhaften und verschwinden lassen. Auch dort komme es zu Gewalt gegen LGBT-Personen und es fänden "Hexenjagden" auf diese Personengruppe statt. Mögliche Gefahr drohe ihnen insbesondere von Seiten bewaffneter Gruppen, der Polizei, dem Stamm oder der Familie. Bezüglich letzterer seien besonders Ehrverbrechen ein Thema. Solchen würden Männer zwar wesentlich seltener zum Opfer fallen als Frauen, allerdings sei, wenn Männer betroffen seien, laut einer Quelle in den meisten Fällen die Zugehörigkeit oder die vermutete Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit das Motiv. Auch in der Region Kurdistan-Irak lebten LGBT-Personen daher im Geheimen und würden sich öffentlich nicht zu ihrer sexuellen Orientierung bekennen. Der Grund für die geringe Anzahl an veröffentlichten Fällen von Gewalt gegen Schwule liege insgesamt darin, dass Homosexualität ein Tabu darstelle, über das nicht geredet werde. Opfer würden Übergriffe aus Angst vor den Behörden nicht melden oder zur Anzeige bringen, und Behörden unterdrückten Medienberichte über derartige Vorfälle. Ein weiterer Grund für die geringe Zahl an dokumentierten Fällen liege darin, dass es oft an deutlichen Hinweisen auf einen Zusammenhang des Verbrechens mit der sexuellen Orientierung des Opfers fehle, da LGBT-Personen sich in der Öffentlichkeit bedeckt hielten und ihr Aussehen und öffentliches Auftreten den gesellschaftlichen Normen anpassten, wodurch ihre Zugehörigkeit zur LGBT-Gemeinschaft häufig nicht bekannt werde.

Einer Anfragebeantwortung des österreichischen Roten Kreuzes zur Lage von LGBTI-Personen im Irak (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von LGBTI-Personen, 9.2.2017 [im Folgenden: ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017]) lässt sich des Weiteren entnehmen, dass es im Irak zwar kein Gesetz gebe, das einvernehmliche sexuelle Handlungen verbiete, allerdings seien - unter anderem - homosexuelle Paare aufgrund von "Unzucht" (wie etwa "öffentliche Unsittlichkeit") einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Demgegenüber gebe es im Irak weder ein Gesetz gegen Hassverbrechen noch gegen Diskriminierungen und überhaupt keine strafrechtlichen Mittel zur Strafverfolgung von Verbrechen, die aufgrund einer Voreingenommenheit gegenüber LGBTI-Personen verübt worden seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017 unter Berufung auf einen Bericht des US-amerikanischen Department of State von April 2016 mit Berichtzeitraum 2015). Trotz wiederholter Drohungen und Gewalt, die auf LGBTI-Personen abzielten, habe es die Regierung weder vermocht, Angreifer zu identifizieren, festzunehmen und zu belangen, noch die Opfer zu schützen (vgl. ebda.). Einem von mehreren Nichtregierungsorganisatonen verfassten Bericht an den UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zur Lage von LGBT-Personen im Irak vom August 2015 zufolge, sei es im Irak sehr gefährlich, als LGBT-Person wahrgenommen zu werden und es sei nahezu unmöglich, offen als LGBT-Person zu leben (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017 unter Bezugnahme auf einen Bericht der Nichtregierungsorgnisationen International Women's Human Rights Clinic at the City University of New York School of Law, IWHR; Global Women's Rights, MADRE). Weiter heißt es darin, dass staatliche Sicherheitskräfte nicht bloß Fälle von gegen LGBT-Personen gerichteter Diskriminierung und Gewalt nicht untersuchten, sie würden sich sogar zurückhalten und zulassen, dass Hassverbrechen passierten (vgl. ebda.). Darüber hinaus würden Sicherheitskräfte und staatliche Bedienstete selbst zu gegen LGBT-Personen gerichteter Diskriminierung und Gewalt greifen, wobei sie den Opfern zugleich den Zugang zur Justiz verweigerten, was Diskriminierung und Gewalttaten noch weiter fördere (vgl. ebda.). Demgegenüber erwähne der irakische Regierungsbericht an den UNO-Menschenrechtsausschuss von 2013 die auf einer realen oder als solche wahrgenommenen sexuellen Orientierung oder Gender-Identität basierende allgegenwärtige Gewalt und Diskriminierung überhaupt nicht (vgl. ebda.). Obwohl es kein Gesetz gebe, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiere, bemerke der Regierungsbericht offen, dass homosexuelle Handlungen als illegal eingestuft würden und LGBT-Aktivistinnen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung abgesprochen werde (vgl. ebda.). Laut Interviews mit irakischen Menschenrechtsverteidigern würden die Grundrechte und Freiheiten von LGBT-Personen im Irak regelmäßig straflos verletzt (vgl. ebda.). Personen, die aufgrund ihrer realen oder wahrgenommenen sexuellen Orientierung oder Gender-Identität Opfer von Diskriminierung würden, beziehungsweise verletzt oder gefoltert würden, könnten sich nicht an staatliche Institutionen, darunter Polizei, Sicherheitskräfte oder medizinische Einrichtungen wenden, um Schutz und Unterstützung zu erhalten (vgl. ebda.). Der Bericht führt in einer Fußnote hierzu genauer aus, dass Ärzte an Krankenhäusern im Irak regelmäßig LGBT-Personen die Gesundheitsversorgung verweigerten oder das Doppelte oder Dreifache der Behandlungskosten verlangen würden (vgl. ebda.).

Einem im Jahr 2014 veröffentlichtem Bericht von Outright Action International, einer in den USA ansässigen Nichtregierungsorganisation, die zusammen mit lokalen Partnerorganisationen und Aktivisten Diskriminierung und Misshandlung von LGBTI-Personen in der Welt dokumentiert und sich für LGBTI-Rechte einsetzt, lässt sich entnehmen, dass die meisten Bedrohungen bezüglich LGBT-Personen von deren Familien, der Gesellschaft und den Stämmen ausgehen würden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017 unter Verweis auf den im Jahre 2014 veröffentlichten Bericht von Outright Action International zu den Verfolgungsakteuren von LGBT-Personen in der Republik Kurdistan-Irak). Danach hätten LGBT-Personen, die im Zuge des Berichts interviewt worden seien, angegeben, dass enge Familienmitglieder für die oft tödlichen Bedrohungen verantwortlich seien, wobei mehrere Befragte zudem ausgeführt hätten, dass Familienmitglieder der Meinung seien, sie müssten agieren, um die Ehre der Familie und Stammeswerte zu verteidigen (vgl. ebda.).

Die Nichtregierungsorganisation lraQueer interviewte für einen Bericht (Fighting for the Right to Life, The State of LGBT+ Human Rights in Iraq, Juni 2018) 257 LGBT-Personen, elf Regierungsbedienstete, 16 religiöse Führer und 201 Mitglieder der irakischen Gesellschaft, die meisten davon im Irak, und wertete mehrere Veröffentlichungen aus und stellte fest, dass 22 v.H. der Verletzungshandlungen, die zwischen 2015 und 2018 gegen LGBT-Personen begangen worden seien, von der Regierung ausgegangen. seien. Unter diesen Verletzungshandlungen wurden Gewalt, Bedrohungen, Tötungen, Vergewaltigungen, Missbrauch, sexuelle Missbrauch und körperliche Erniedrigung gelistet (a.a.O., S. 12-14, 21). Dort heißt es weiter, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden, in Fällen von Diskriminierung und Gewalt gegen LGBT-Personen nicht nur nicht ermittelten, sondern im vollen Bewusstsein der Folgen dabei zusehen würden, wie mörderischer Hass geschehe. Die Versagung des Zugangs zum staatlichen Justizsystem für diese Opfer von Menschenrechtsverletzungen ermutige weitere Diskriminierung und Gewaltakte, einschließlich solcher, die von Ärzten und anderen begangen würde, die versuchten, aus der Vulnerabilität von LGBT-Personen Profit zu schlagen. Durch die mangelnde Bereitschaft, selbst die offensichtlichsten Täter zu ermitteln oder zu verfolgen, ermutigten die Sicherheitsbehörden gegen LGBT-Personen gerichtete Menschenrechtsverletzungen einschließlich Folter und Tötungen (a.a.O., S. 8). Im selben Zeitraum hätten 31 v.H. der Verletzungshandlungen von bewaffneten Gruppen bzw. Milizen gestammt; 27 v.H. von Familienangehörigen und 10 v.H. von "anderen" (a.a.O., S. 12-14, 21).

Insbesondere lässt sich den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen Folgendes zu bestimmten Verfolgungsschlägen entnehmen:

In einem gemeinsamen Bericht von OutRight International (damals noch International Gay and Lesbian Human Rights Commission, IGLHRC), der Frauenrechtsbewegung MADRE und der Organization of Women's Freedom in Iraq (IGLHRC/MADRE/OWFI, When Coming Out is a Death Sentence, Persecution of LGBT Iraqis, November 2014, S. 8) heißt es, dass in einem Fall ein homosexueller Mann, dessen Vater ihn in der Obhut.der Polizei gelassen habe, von der Polizei vergewaltigt worden sei. Irakische LGBT sähen sich auch organisierter, tödlicher Verfolgung angestiftet, inspiriert oder toleriert von staatlichen Akteuren und Milizen ausgesetzt. Am 15. Mai 2014 hätten die Zornesbrigaden (Saraya Al-Ghadhab, der militärische Arm der Liga der Rechtschaffenen (Asa'ib ahl Al-Haqq) in Bagdad die Namen und Wohnorte von 24 "gesuchten" Personen veröffentlicht, von denen 23 wegen des "Verbrechens", homosexuelle Handlungen begangen zu haben, und ein Mann, wegen des "Verbrechens", lange Haare zu tragen, beschuldigt worden seien.

Der Bericht des US-amerikanischen Außenministeriums zur Menschenrechtslage im Jahr 2016 (United States Department of State, Country Report an Human Rights Practices 2016 - Iraq, 3.3.2017) ist zu entnehmen, dass die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für den Irak (UNAMI) im Juli [2016] berichtet habe, dass ein junger Mann wegen seiner sexuellen Orientierung in Bagdad entführt und getötet worden sei. Quellen berichteten, dass die Entführer bekannte Mitglieder bewaffneter Gruppen gewesen seien. Manche bewaffnete Gruppen hätten außerdem eine Kampagne gegen Homosexuelle in Bagdad gestartet. UNAMI habe berichtet, dass zumindest drei weitere Personen seit Juli [2016] verschwunden seien. Im Menschenrechtsbericht 2017 (United States Department of State, Country Report an Human Rights Practices 2017 - Iraq, 20.4.2018) heißt es, lokale Kontakte hätten berichtet, dass Milizen LGBTI-Todeslisten verfassten und Männer, die als schwul, bisexuell oder transgender wahrgenommen würden, hinrichteten. Der Schauspieler und Model Kara Nushi sei in Bagdad wegen seiner wahrgenommenen Homosexualität gefoltert und erstochen aufgefunden worden.

In dem Bericht von IraQueer von Juni 2018 heißt es zudem, dass Gruppen wie die schiitische Miliz Asa'ib ahl AI-Hagq "Mordkampagnen" organisierten. Die letzte Kampagne habe im Januar 2017 stattgefunden, als mehrere hundert Namen in eine Liste aufgenommen worden seien, mit der die Gelisteten aufgefordert worden seien, sich entweder zu verändern oder zu sterben. IraQueer sei in direktem Kontakt zu einigen der dort gelisteten Personen gewesen. Viele hätten andere schwule Personen gekannt, die auf der Liste gestanden hätten und umgebracht worden seien, weil sie LGBT gewesen seien (IraQueer, Fighting for the Right to Live, The State of LGBT+ Human Rights in Iraq, Juni 2018, S. 9). IraQueer schätze die Zahl der getöteten LGBTI-Personen unter Berufung auf eine eigene Datenbank für das Jahr 2017 auf mehr als 220; nach den Erkenntnissen von Human Rights Watch seien auch 2012 mehr als 200 Personen umgebracht worden (a.a.O., S. 7).

Zu früheren Vorfällen heißt es in einem weiteren Bericht von IraQueer und Outright Action International, der von dem International Covenant von Civil and Political Rights (ICCPR) der Vereinten Nationen veröffentlicht wurde (ICCPR, Dying to Be Free, LGBT Human Rights Violations in Iraq, November 2015, S. 4), dass im Jahr 2012, vor allem in Bagdad und Babil, organisierte Tötungen von Personen durch die Milizen AI-Mahdi-Armee und Asa'ib ahl Al-Haqq stattgefunden hätten, die als "Emos" wahrgenommen worden seien. Dabei seien bis zu 56 Menschen getötet worden. Beispielhaft werden u.a. ein Fall aus dem Jahr 2012 aufgezählt, in dem ein Mann, der mit Männern Geschlechtsverkehr gehabt habe, in einem Krankenhaus mit Stahlrohren zu Tode geprügelt worden sei, und aus dem Jahr 2013, in dem einem Mann von Mitgliedern von Asa'ib ahl AI-Haqq der Anus zugeleimt worden sei. Dies sei eine gegenüber Schwulen häufig verwendete Folterpraxis (a.a.O., S. 5 f.). 2009 seien in Sadr-City in Bagdad mehrere Dutzend schwule Männer von Milizanhängern und ihren Familien umgebracht worden, nachdem es mutmaßlich einen Aufruf des schiitischen Klerikers Al-Sadr gegeben habe (a.a.O., S. 3 f.).

Laut dem Menschenrechtsbericht von UNAMI für das erste Halbjahr 2017 (UNAMI/UNOCHA, Report an Human Rights in Iraq, January to June 2017, Dezember 2017, S. 17) sei zudem am 13. Januar [2017] die Leiche eines Mannes auf einem Müllplatz im Stadtviertel Binouk in Bagdad gefunden worden. Die Leiche habe Stichwunden am Bauch und im Genitalbereich aufgewiesen. Am 28. Januar sei die Leiche eines 22jährigen Mannes, ebenfalls mit Stichwunden, im Distrikt Suq Al-Shiyukh, 30 Kilometer südöstlich von Nasiriya gefunden worden. Nach den Informationen von UNAMI/UNOCHA, sei auch diese Person wegen ihrer wahrgenommenen sexuellen Orientierung getötet worden. Am 28. Februar sei im Distrikt Al-Zubair in Basra einem Stammesführer von Unbekannten mehrfach in den Kopf geschossen worden. Dieser Tötung sei die Veröffentlichung eines Videos in sozialen Medien vorausgegangen, das angeblich gezeigt habe, wie das Opfer mit einem anderen Mann Geschlechtsverkehr gehabt habe. Der Mann, der in dem Video mit dem Opfer zu sehen gewesen sei, sei aus dem Distrikt Al-Zubair geflohen, nachdem sein Haus von Unbekannten niedergebrannt worden sei. Am 19. März seien zwei junge Männer von Unbekannten im Bereich Khamsamil in Basra getötet worden, angeblich wegen ihrer wahrgenommenen sexuellen Orientierung. Beide, ungefähr 17 Jahre alt, seien mit Schusswunden am Kopf gefunden worden. Bei ihren Leichen sei angeblich ein Brief gefunden worden, der angekündigt habe, dass die Täter alle Männer, die lange Haare hätten und sich wie Frauen anzögen, töteten. Am 10. April sei die Leiche eines 22-jährigen Mannes in Maysan im Viertel Al-Qadissiya in Amara gefunden worden. Die Leiche habe mehrfache Stichverletzungen aufgewiesen und sei, auch an den Geschlechtsteilen, verstümmelt gewesen. Die Verletzungen und andere Informationen deuteten darauf, dass der Mann wegen seiner sexuellen Orientierung getötet worden sei.

Auch wenn aus diesen Quellen für die jüngere Vergangenheit nicht mehr als eine im Durchschnitt zweistelligen Zahl berichteter Referenzfälle von Tötungen und Misshandlungen homosexueller Männer im Jahr hervorgeht und dies mit Blick auf die erhebliche Größe der Bezugsgruppe gering erscheint, führt eine wertende Gesamtbetrachtung zu der Annahme, dass Verfolgungshandlungen gegen homosexuelle Männer im Irak sich so wiederholen und um sich greifen, dass für jeden dieser Männer die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit begründet ist, wenn sie ihre Homosexualität nicht vollständig verbergen. Hierbei ist zunächst die Zahl der berichteten Verfolgungsschläge zu kontextualisieren.

Es ist zunächst davon auszugehen, dass der überwiegende Teil von Misshandlungen und Tötungen Homosexueller keine Aufmerksamkeit findet und die gegen Homosexuelle gerichtete Gewalt aus strukturellen Gründen nicht vollständig erfasst werden kann. Daher besteht Grund zu der Annahme, dass die Zahl der berichteten Referenzfälle alleine die Gefahr für einen homosexuellen Mann im Irak nicht ausreichend widerspiegelt. Denn ungeachtet der allgemeinen Schwierigkeiten bei der flächendeckenden Erfassung der Gewaltverbrechen im Irak, führt die Stigmatisierung der Homosexualität dazu, dass die homosexuellen Gewaltopfer und deren Umfeld - bei "Ehrverbrechen" in der Familie auch die Täter - im Allgemeinen kein Interesse haben, dass entsprechende Vorfälle oder ihr Bezug zur homosexuellen Orientierung des Opfers bekannt werden (hierauf weist allgemein hin UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz Nr. 9: Anträge auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der geschlechtlichen Identität im Zusammenhang mit Artikel 1 [A] 2 des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 23.10.2012, abrufbar unter: www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf, Ziff. 66; vgl. zum Irak Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13.3.2018, S. 2 ff.)., Die Nichtbeachtung von Übergriffen auf Homosexuelle durch die Sicherheitsbehörden deutet ebenfalls darauf hin, dass auch staatlicherseits kein Interesse daran besteht, Gewalt gegen sexuelle Minderheiten als solche überhaupt zu erfassen.

Weiter ist in Betracht zu ziehen, dass Homosexuelle, anders als häufig geografisch konzentrierte ethnische oder religiöse Minderheiten, über keine staatlichen oder privaten Rückzugsräume verfügen und sich nach der Erkenntnislage mangelnder Schutzbereitschaft, Feindseligkeit und Verfolgungshandlungen durch den ganz überwiegenden Teil der sie umgebenden Gesellschaft - von Staat, quasistaatlichen Organisationen, der Zivilgesellschaft und ihren Familien - ausgesetzt sehen. Dabei ist die Ausgrenzung Homosexueller kulturell verwurzelt und im Wesentlichen langjährig konstant (vgl. vgl. Rohde, Gays, Cross-Dressers, and Emos: Nonnormative Masculinities in Militarized Iraq, Journal of Middle East Women's Studies, Vol. 12, No. 3, November 2016, S. 433); Verfolgungswellen treten regelmäßig auf.

Die Intensität der von den unterschiedlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung wird von der Zahl der berichteten Referenzfällen auch deswegen nicht vollständig erfasst, weil nicht anzunehmen ist, dass diese Akteure bei den übrigen Homosexuellen bewusst von einer Verfolgung absehen würden, sondern diese alleine in Unkenntnis der homosexuellen Orientierung unterbleibt. Eine aktuelle Mitbetroffenheit derjenigen Homosexuellen, die selbst (noch) keine Verfolgungshandlungen erlitten haben, ist in größerem Maße als bei anderen gruppengerichteten Verfolgungsmaßnahmen anzunehmen, da Homosexualität im Irak nach den Erkenntnissen der Kammer in aller Regel nur im Geheimen gelebt wird und es gleichwohl mindestens zu den berichteten Verfolgungsschlägen gekommen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein erkannt homosexueller Mann Opfer einer Verfolgungsmaßnahme wird, ist damit deutlich höher einzuschätzen als eine rein mathematische Gegenüberstellung der berichteten Vorfälle mit der Zahl der homosexuellen Männer im Irak. Ob die Homosexualität bekannt wird, ist dabei vielfach vom Zufall abhängig und kann bei jedem homosexuellen Mann, der seine Homosexualität nicht vollständig verbirgt, angesichts der Vielzahl potentieller Verfolgungsakteure jederzeit geschehen und eine Verfolgung aktualisieren.

Im Übrigen sieht die Kammer es als geboten an, bei der Beurteilung, ob sich aus der - auf den ersten Blick - geringen Zahl an bekannten Verfolgungsschlägen eine aktuelle Betroffenheit jedes Gruppenzugehörigen ergibt, entscheidend mit zu berücksichtigen, dass es sich bei den berichteten Vorfällen und gravierende Rechtsgutsverletzungen - zum überwiegenden Teil Tötungen - handelt. Diese herausragenden Verfolgungshandlungen stehen zudem vor dem Hintergrund einer nach der Erkenntnislage ohnehin vorhandenen allumfassenden, alltäglichen Diskriminierung.

cc. Diese Verfolgung trifft die Gruppenangehörigen auch gerade "wegen" eines der in § 3 Abs. 1 AsylG aufgezählten Merkmale, weil es sich bei den homosexuellen Männern im Irak um eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsyIG handelt. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine "bestimmte soziale Gruppe", wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der homosexuellen Männer im Irak vor (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 6.7.2018, 8 A 3624/17, n.v.; ebenso VG Berlin, Urt. v. 5.6.2018, 25 K 327.17 A, juris, Rn. 19; VG Ansbach, Urt. v. 31.1.2018, AN 10 K 17.31735, juris, Rn. 21; VG München, Urt. v. 24.4.2014, M 4 K 13.30114, juris, Rn. 39; VG Sigmaringen, Urt. v. 26.4.2010, A 1 K 1911/09, juris, S. 5 f.). Homosexuelle Männer im Irak teilen durch ihre sexuelle Orientierung ein Merkmal, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollten, darauf zu verzichten. Wie bereits § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2 AsylG zeigt, handelt es sich bei der sexuellen Orientierung um ein derart bedeutsames Merkmal (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-199/12 u.a., juris, Rn. 46). Homosexuelle Männer im Irak besitzen zugleich eine eindeutig abgegrenzte Identität, da sie als andersartig wahrgenommen werden. Die Erkenntnismittel zeigen deutlich, dass Homosexualität im Irak nicht als normal betrachtet wird. [...]