Kein Wahlrecht zwischen einer Entscheidung nach Aktenlage und der Einstellung des Verfahrens:
"1. Erscheint ein Ausländer unentschuldigt nicht zur Anhörung, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) kein Wahlrecht zwischen der Einstellung des Verfahrens nach § 32 AsylG wegen Eintritts der gesetzlichen Rücknahmefiktion nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG und der Entscheidung nach Aktenlage gemäß § 25 Abs. 4 Satz 5 und Abs. 5 Satz 3 AsylG. Die zwingende Folge der fingierten Antragsrücknahme bei Nichtbetreiben des Verfahrens begründet bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Pflicht zur Einstellung des Verfahrens.
2. Hat das Bundesamt eine Sachentscheidung getroffen, obwohl es das Asylverfahren hätte einstellen müssen, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtung der Sachentscheidung.
3. Allein ein Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung einer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG begründet noch kein Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtung.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Wegen ihrer Verpflichtung zur Herstellung der Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO und zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO sind die Gerichte auch in Asylverfahren verpflichtet, zur Sache durchzuentscheiden. Die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens mit der hervorgehobenen Stellung des behördlichen Verfahrens und den daran anknüpfenden Verfahrensgarantien kann in besonderen Fallkonstellationen eine Ausnahme rechtfertigen. Dies kann etwa bei einer Bescheidungsuntätigkeitsklage der Fall sein, wenn noch keine Anhörung beim Bundesamt stattgefunden hat (BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 C 18.17 - NVwZ 2018, 1875 Rn. 37 ff.), oder bei Klagen gegen Bescheide, in denen das Bundesamt ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen den Asylantrag nach § 29 AsylG als unzulässig abgelehnt (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2017 - 1 C 9.17 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 3 Rn. 14 f. m.w.N.) oder das Asylverfahren nach §§ 32, 33 AsylG eingestellt hat (BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 - BVerwGE 147, 329 Rn. 14). Auch bei einer Sachentscheidung über einen fingierten Asylantrag ist eine - unter bewusstem Verzicht auf eine weitergehende gerichtliche Prüfung der behördlichen Sachentscheidung - inhaltlich auf die Unanwendbarkeit des § 14a Abs. 2 AsylG beschränkte isolierte Anfechtungsklage zulässig (BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 - 1 C 10.06 - BVerwGE 127, 161 Rn. 15 ff.). In Fortentwicklung dieser Rechtsprechung kann ein Rechtsschutzbedürfnis für eine (isolierte) Anfechtungsklage auch in Fällen bestehen, in denen das Bundesamt zu Unrecht ohne Anhörung in der Sache über einen Asylantrag entschieden hat.
Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtung mit der Folge der Fortführung oder der Einstellung des Verfahrens durch das Bundesamt lässt sich vorliegend aber weder aus der unterbliebenen Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG (aa) noch aus einer Verpflichtung des Bundesamtes zur Einstellung des Verfahrens nach §§ 32, 33 AsylG (bb) herleiten.
aa) Da der Kläger infolge der gegen ihn verhängten Abschiebehaft nicht verpflichtet war, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, hätte ihm nach dem Absehen von der persönlichen Anhörung durch das Bundesamt wegen des unentschuldigten Fernbleibens von der Anhörung gemäß § 25 Abs. 5 Satz 2 AsylG Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme innerhalb eines Monats gegeben werden müssen. Aufgrund der inneren Systematik der Vorschrift, wonach eine Entscheidung nach Aktenlage (Satz 3) nur bei einem Absehen von der Anhörung wegen des unentschuldigten Fernbleibens (Satz 1) und der Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme (Satz 2) möglich ist, handelt es sich bei der Verpflichtung zur Gewährung einer Stellungnahmemöglichkeit um eine materielle Tatbestandsvoraussetzung und nicht um eine reine Verfahrensvorschrift. Die vorliegend unterbliebene Stellungnahmemöglichkeit ist deshalb zu einer Verletzung der Rechte des Klägers geeignet (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Allerdings ist die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme von der persönlichen Anhörung nach § 25 Abs. 1 und 2 AsylG zu unterscheiden. Ihr kommt nicht die Bedeutung zu, die der Senat in seiner Rechtsprechung der Anhörung im Hinblick auf die unionsrechtlichen Verfahrensgarantien und Vorkehrungen beigemessen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2018 - 1 C 18.17 - NVwZ 2018, 1875 Rn. 39 ff.). Anders als die persönliche Anhörung, die den Vorgaben der Artikel 14 ff. der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60 - AsylVerfRL n.F. -) genügen muss, kann eine unterlassene schriftliche Stellungnahme im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden, ohne die Funktion der nach nationalem Recht vorgesehenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu beeinträchtigen. Wird diese Gelegenheit nicht gegeben, ist dies daher nicht geeignet, ein berechtigtes Interesse für eine isolierte Anfechtung zu begründen.
bb) Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtung ist aber zu bejahen, wenn das Bundesamt statt der getroffenen Sachentscheidung das Verfahren hätte einstellen müssen. Erscheint ein Ausländer unentschuldigt nicht zur Anhörung, besteht für das Bundesamt in diesen Fällen entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts kein Wahlrecht zwischen der Feststellung der Einstellung des Verfahrens nach § 32 AsylG wegen Eintritts der gesetzlichen Rücknahmefiktion nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG und der Entscheidung nach Aktenlage gemäß § 25 Abs. 4 Satz 5 und Abs. 5 Satz 3 AsylG (1). Dem Bundesamt war vorliegend jedoch eine Verfahrenseinstellung nach §§ 32, 33 AsylG wegen einer fehlerhaften Belehrung über die Rechtsfolgen des unentschuldigten Fernbleibens von der Anhörung, die auch den Eintritt der Rücknahmefiktion hindert, verwehrt (2).
(1) In Fällen des unentschuldigten Fernbleibens von der Anhörung steht dem Bundesamt zwischen der Einstellung des Asylverfahrens und der (Sach-) Entscheidung nach Aktenlage entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts kein Wahlrecht zu.
Aus dem Wortlaut des § 25 Abs. 4 Satz 5 und Abs. 5 Satz 3 und 4 AsylG einerseits und der §§ 32, 33 AsylG andererseits ergibt sich zunächst kein bestimmtes Rangverhältnis der Vorschriften zueinander. Gemäß § 25 Abs. 5 Satz 4 AsylG bleibt § 33 AsylG vielmehr unberührt, was sprachlich auch ein gleichberechtigtes Nebeneinander beider Vorschriften erfasst.
Das Unionsrecht räumt den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht zwischen Verfahrenseinstellung und (ablehnender) Sachentscheidung ein. Sowohl nach Art. 20 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 326 S. 13) - AsylVerfRL a.F. - als auch nach Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU - AsylVerfRL n.F. - stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass dann, wenn ein (vernünftiger) Grund zu der Annahme besteht, dass ein Antragsteller bzw. Asylbewerber stillschweigend seinen Antrag zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, die Asylbehörde entweder die Antragsprüfung einstellt oder den Asylantrag aufgrund der Tatsache ablehnt, dass der Antragsteller bzw. Asylbewerber einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht nachgewiesen hat (AsylVerfRL a.F.) bzw. den Antrag ablehnt, sofern sie den Antrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung als unbegründet ansieht (AsylVerfRL n.F.). Dabei wird das Nichtbefolgen einer Aufforderung zur Anhörung als stillschweigende Rücknahme gewertet (Art. 20 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a AsylVerfRL a.F., Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a AsylVerfRL n.F.).
Der Gesetzgeber hat bei der Änderung des § 33 AsylG anlässlich des sog. "Asylpaket II" durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I S. 390) an dem Nebeneinander beider Vorschriften nichts geändert. Durch die Neuregelung des § 33 AsylG wollte er die Voraussetzungen für die vereinfachte Beendigung eines (behördlichen) Asylverfahrens schaffen, an dessen Fortführung der Ausländer kein Interesse mehr hat, um zu verhindern, dass Ausländer das Asylverfahren durch bewusstes Nichtbetreiben verzögern (BT-Drs. 12/2062 S. 33 zu § 33 AsylVfG 1992). Nach den Gesetzesmaterialien dient die Neufassung von 2016 vor allem dem Zweck, in Fällen fehlender Mitwirkungsbereitschaft des Ausländers das Bundesamt von der Weiterführung dieser Asylverfahren zu entlasten. Dieser Entlastungseffekt tritt nach der Gesetzesbegründung insbesondere im Fall des Untertauchens ein, der nach früherem Recht wegen der insoweit erforderlichen gesonderten Aufforderung durch das Bundesamt, das Asylverfahren zu betreiben, erheblichen zusätzlichen Aufwand verursacht und für Verzögerungen im weiteren Verfahrensablauf gesorgt habe. Das Bundesamt werde durch die Möglichkeit, in diesen Fällen das Verfahren einzustellen, ohne eine materielle Entscheidung zu treffen, deutlich entlastet. Mit der Regelvermutung nach den Kriterien des § 33 Abs. 2 AsylG sei eine gesonderte Aufforderung zum weiteren Betreiben des Verfahrens nicht mehr erforderlich, das Nichtbetreiben werde vielmehr vermutet. Diese Vermutung könne widerlegt werden, wenn der Ausländer unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern nachweisen könne, dass das Versäumnis bzw. die von ihm vorgenommene Handlung auf Umständen beruhe, auf die er keinen Einfluss gehabt habe (BT-Drs. 18/7538 S. 16 f.). Nach der alten Rechtslage stand dem Bundesamt aber kein generelles Wahlrecht zu, ob es das Asylverfahren einstellt oder eine Sachentscheidung trifft. Das Bundesamt hatte nur die Wahl, ob es das Nichterscheinen zum Anlass nimmt, über eine Betreibensaufforderung eine kraft Gesetzes wirkende (fiktive) Antragsrücknahme herbeizuführen, oder ob es nach Aktenlage in der Sache entscheidet.Wenn nach einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung die Voraussetzungen einer (fiktiven) Antragsrücknahme vorlagen, durfte das Bundesamt keine Sachentscheidung mehr treffen (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 17).
Die Neuregelung des § 33 AsylG schließt systematisch ein Wahlrecht aus. Nach § 33 Abs. 1 AsylG tritt die Rücknahmefiktion bei bestimmten Verhaltensweisen des Antragstellers nunmehr stets und ohne das frühere Erfordernis einer Betreibensaufforderung kraft Gesetzes ein. Der Asylantrag gilt als zurückgenommen, wenn der Antragsteller das Verfahren nicht betreibt. Kommt der Ausländer einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nach, wird gemäß § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Sein Antrag gilt kraft gesetzlicher Anordnung als zurückgenommen (vgl. zur insoweit identischen Wirkung der Vorgängerregelung: BVerwG, Beschluss vom 20. Januar 1984 - 9 B 689.81 - Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 1 S. 2 f.). Die sich aus § 32 AsylG ergebende Folge der Einstellung des Asylverfahrens wegen (fingierter) Antragsrücknahme ist zwingende gesetzliche Folge; die Entscheidung des Bundesamtes hierüber ist rein deklaratorisch (BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 - 9 C 264.94 - Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12 S. 2; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 32 AsylG Rn. 6). Diese zwingende gesetzliche Folge führt dazu, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Pflicht zur Einstellung des Verfahrens besteht, die der Möglichkeit der Sachentscheidung vorgeht. Über einen nicht mehr existenten Asylantrag kann keine Sachentscheidung mehr getroffen werden. Dass den Regelungen in § 25 Abs. 4 Satz 5 und Abs. 5 Satz 3 AsylG damit kaum mehr ein Anwendungsbereich verbleibt, steht dem nicht entgegen und könnte nur durch den Gesetzgeber über eine (eindeutige) Regelung geändert werden.
(2) Dem Bundesamt war hier eine Verfahrenseinstellung wegen einer fehlerhaften Belehrung über die Rechtsfolgen des unentschuldigten Fernbleibens von der Anhörung jedoch verwehrt, sodass der Kläger auch hieraus kein Rechtsschutzbedürfnis herleiten kann. [...]
Aufgrund des fehlerhaften Hinweises ist die Rücknahmefiktion des § 33 Abs. 1 AsylG nicht eingetreten. Dem Bundesamt war damit eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 32, 33 AsylG verwehrt und der Weg für die getroffene Sachentscheidung nach § 25 Abs. 5 Satz 3 AsylG eröffnet, ohne dass diese hier ausnahmsweise mit der isolierten Anfechtungsklage angegriffen werden kann. [...]