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Zitieren als:
BVerwG, Entscheidung vom 25.04.2019 - 1 C 51.18 - asyl.net: M27326
https://www.asyl.net/rsdb/M27326
Leitsatz:

Erneute Unzulässigkeitsentscheidung nach stattgebender Eilentscheidung:

1. Liegen bei einer Fortführung des Verfahrens nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - einschließlich etwaiger sich aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ergebender Vorgaben - weiterhin vor, muss das Bundesamt erneut eine Unzulässigkeitsentscheidung treffen (wie BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - DVBl 2019, 632).

2. Die Frage, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auch bei gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRC verstoßenden Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte im anderen EU-Mitgliedstaat ergehen kann, ist Gegenstand der beim Gerichtshof der Europäischen Union noch anhängigen Vorabentscheidungsersuchen des Senats in den verbundenen Rechtssachen C-540/17 und C-541/17 (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. August 2017 - 1 C 37.16 - juris und - 1 C 2.17 - juris).

3. Eine rechtswidrig unter Rückgriff auf § 38 Abs. 1 AsylG gesetzte 30-tägige Ausreisefrist nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens anstatt der im Fall der Unzulässigkeit des Asylantrages nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gesetzlich vorgeschriebenen Wochenfrist nach § 36 Abs. 1 AsylG, deren Ablauf nur nach Maßgabe des § 36 Abs. 3 AsylG verhindert werden kann, verletzt den Ausländer nicht in eigenen Rechten.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit, Unwirksamkeit, Abschiebungsandrohung, vorläufiger Rechtsschutz, behördliche Aussetzung der Vollziehung, Ausreisefrist, Suspensiveffekt, aufschiebende Wirkung, Rechtsschutzinteresse, subjektives Recht, Fortführung des Verfahrens, Anerkannte, ausländische Anerkennung,
Normen: AsylG § 37 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 34 Abs. 2, AsylG § 36 Abs. 1, AsylG § 38 Abs. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, VwGO § 144 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab, weil dem Ausländer bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz gewährt worden ist, und droht es ihm zugleich die Abschiebung an, werden beide Entscheidungen nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG mit einer die aufschiebende Wirkung der Abschiebungsandrohung anordnenden Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts unabhängig von den Gründen der Stattgabe kraft Gesetzes unwirksam. In diesen Fällen ist das Asylverfahren nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG in dem Stadium fortzuführen, in dem es sich vor der Ablehnung befunden hat. Bei dieser Fortführung muss sich das Bundesamt mit den vom Verwaltungsgericht im Eilverfahren geäußerten ernstlichen Zweifeln auseinandersetzen, ist aber an dessen Bewertung nicht gebunden. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - einschließlich etwaiger sich aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ergebender Vorgaben - weiterhin vor, muss es selbst in Fällen, in denen das Verwaltungsgericht seinen stattgebenden Eilbeschluss ausdrücklich (auch) auf ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung gestützt hat, erneut eine Unzulässigkeitsentscheidung treffen. Die Entscheidungsinstrumente, die das Asylgesetz zur Verfügung stellt, ermöglichen dem Bundesamt auch im Falle einer neuerlichen Unzulässigkeitsentscheidung die Vermeidung einer "Endlosschleife" im Verfahren. Bei dieser Auslegung bestehen gegen die Regelung in § 37 Abs. 1 AsylG weder unions- noch verfassungsrechtliche Bedenken (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - DVBl 2019, 632 <638>). [...]

2. Ob die (neuerliche) Unzulässigkeitsentscheidung mit weiteren, sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzungen zu vereinbaren ist, lässt sich auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (a.) mangels der dafür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen durch das Verwaltungsgericht nicht abschließend beurteilen (b.).

a. Der Ablehnung eines Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, steht Unionsrecht nach der Rechtsprechung des EuGH jedenfalls dann nicht entgegen, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als subsidiär Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRC - zu erfahren. Der Umstand, dass Personen, denen solch ein subsidiärer Schutz zuerkannt wird, in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch insofern anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. - LS 3 in Rn. 103). Dazu hat das Gericht auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte festzustellen, ob dieses Risiko für den Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - LS 3 in Rn. 99). Die Frage, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auch bei gegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC verstoßenden Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte im anderen Mitgliedstaat ergehen kann, ist Gegenstand der beim Gerichtshof der Europäischen Union noch anhängigen Vorabentscheidungsersuchen des Senats in den verbundenen Rechtssachen C-540/17 und C-541/17 (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. August 2017 - 1 C 37.16 - juris und - 1 C 2.17 - juris, vom 17. April 2019 - 1 C 2.17 - und vom 24. April 2019 - 1 C 37.16 -; s.a. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 25. Juli 2018 in den verbundenen Rechtssachen - C-297/17 u.a., Rn. 108 ff., 120).

b. Das Verwaltungsgericht hat es - ausgehend von der Rechtswidrigkeit der (erneuten) Unzulässigkeitsentscheidung folgerichtig - offengelassen, ob hinsichtlich Italiens systemische Mängel im Asylverfahren und/oder den Lebensbedingungen anerkannter Schutzberechtigter bestehen (UA S. 25), und deshalb insoweit auch keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Ob die in Italien bestehenden Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte den in der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgestellten Anforderungen genügen, kann der Senat mangels der dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht beurteilen. Die Frage, ob die Beurteilung der Situation in Italien im angefochtenen Bescheid vom 12. Januar 2018 im Zusammenhang mit der Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geeignet ist, die Feststellung über das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten trotz der vom Verwaltungsgericht im Eilbeschluss vom 16. November 2017 geäußerten ernstlichen Zweifel auszuräumen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - DVBl 2019, 632 <638>), bedarf der Würdigung durch das Tatsachengericht auf der Grundlage tatsächlicher Feststellungen.

Eine abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides ist dem Senat nicht möglich. Die Ergebnisrichtigkeit der Aufhebungsentscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 144 Abs. 4 VwGO) und damit die Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung ließe sich selbst nach bejahender Klärung der unionsrechtlichen Zweifelsfrage, ob (auch) die Unzulässigkeitsentscheidung an die Voraussetzung geknüpft ist, dass die Lebensverhältnisse im anderen Mitgliedstaat Art. 3 EMRK nicht verletzen, ohne weitere tatrichterliche Feststellungen nicht feststellen. Eine Entscheidung zu Lasten des Klägers nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO wäre nur und erst dann möglich, wenn der Gerichtshof der Europäischen Union in den anhängigen Vorlageverfahren zu dem Ergebnis gelangte, dass eine Unzulässigkeitsentscheidung bei Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft ist. In dieser Situation ist der Senat zu einer (weiteren) EuGH-Vorlage nicht verpflichtet. Die Verpflichtung des Revisionsgerichts, den Rechtsstreit vorrangig abschließend zu entscheiden, beruht auf prozessökonomischen Überlegungen (vgl. etwa Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 144 Rn. 26 f.; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 144 Rn. 6), und setzt voraus, dass dieser aktuell entscheidungsreif ist. Besteht die Möglichkeit zum Durchentscheiden hingegen nur, wenn zuvor der EuGH eine unionsrechtliche Zweifelsfrage in einem bestimmten Sinne klärt, steht es im - nach prozessökonomischen Erwägungen auszuübenden - Ermessen des Revisionsgerichts, ob es die Zweifelsfrage vom EuGH klären lässt oder ob es den Rechtsstreit zunächst zur weiteren Tatsachenfeststellung, die unter Umständen ein Vorabentscheidungsersuchen entbehrlich machen kann, zurückverweist. [...]

Die Abschiebungsandrohung ist auch nicht mit Blick auf die dem Kläger gesetzte 30-tägige Ausreisefrist (Ziffer 3 des Bescheides) unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben. Zwar ist die dem Kläger vom Bundesamt gesetzte Ausreisefrist rechtswidrig, weil bei einer auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist nach § 36 Abs. 1 AsylG eine Woche beträgt. Mit dem Asylgesetz nicht im Einklang steht die Praxis des Bundesamtes, bei Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Abschiebungsandrohung unter Rückgriff auf § 38 Abs. 1 AsylG mit einer 30-tägigen Ausreisefrist zu verbinden (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - DVBl 2019, 632 <641>). Diese rechtswidrige Praxis einer zu Gunsten des Ausländers verlängerten und bei Klageerhebung erst 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens ablaufenden Ausreisefrist verletzt den Kläger aber nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). [...]