VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 09.05.2019 - 8 K 1744/17.A - asyl.net: M27354
https://www.asyl.net/rsdb/M27354
Leitsatz:

Verfolgung wegen Eheschließung zwischen Angehörigen verschiedener Clans in Somalia: 

Flüchtlingsanerkennung wegen der Gefahr der Verfolgung des aus einem berufsständischen Minderheitenclans stammenden Mannes durch die Familie seiner einem Mehrheitsclan zugehörigen Ehefrau in Somalia.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Clan, Eheschließung, Mischehe, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Mogadischu, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

b. Die oben dargestellten Verfolgungshandlungen drohten dem Kläger aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Minderheitenclan der ... als einer sozialen Gruppe i. S. v. §§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

Bei der sogenannten "berufsständischen" Minderheitengruppe der ..., die u.a. auch als ... oder (abwertend) ... und ... bezeichnet wird, handelt es sich um eine soziale Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Die Angehörigen der ... haben eine deutlich abgegrenzte Identität, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Die Zugehörigkeit zu den ... ist angeboren und beruht auf einem gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann.

Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Die Angehörigen eines Clans verfolgen ihre Abstammung auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück. Berufsständische Gruppen unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihrer Abstammung und Sprache nicht von der Mehrheitsbevölkerung. Anders als die "noblen" Clans wird ihnen aber nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf den Propheten Mohammed zurückverfolgen zu können. Ihre traditionellen Berufe werden zudem als "unrein" angesehen (vgl. Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Soma-lia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 8, 11).

Sie stehen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie der somalischen Gesellschaft (vgl. Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Somalia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 13) und sind mit größeren Clans in Somalia nicht wirklich verbündet, haben aber gute Beziehungen zu anderen Minderheitengruppen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, Somalia: Die Minderheitengruppe der ..., 5. Juli 2018, S. 3 f.).

Teilweise leben Angehörige berufsständischer Gruppen auch in einem "Sheegad" genannten Klientelverhältnis mit Mehrheitsclans zusammen, durch das sie einen gewissen Grad von Schutz, jedoch keine vollwertige Mitgliedschaft oder Mitbestimmung erlangen können (vgl. Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Somalia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 39 f.).

Allgemein ist grundsätzlich von einer Diskriminierung im Lichte der jeweiligen Clan- bzw. Sub-Clan-Zugehörigkeit auszugehen. Dabei kann es sich um wirtschaftliche Diskriminierung beispielsweise im Rahmen staatlicher Vergabeverfahren handeln, aber auch um Diskriminierung beim Zugang zu Nahrungsmittelhilfen, natürlichen Ressourcen, Gesundheitsdienstleistungen oder anderen staatlichen Diensten. Zudem werden Mitglieder von Minderheitengruppen oft Opfer von Hassreden, welche dazu dienen, Stereotypen von Minderheiten bezüglich ihres Aussehens und ihrer traditionellen Praktiken aufzubauen und so ihre Diskriminierung noch zu verschlimmern (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Somalia: Die Minderheitengruppe der ..., Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 5. Juli 2018, S. 4).

Darüber hinaus findet eine Diskriminierung auch im Bildungssektor statt. So ist eine Mehrheit der Kinder der berufsständischen Gruppen faktisch vom Schulbesuch ausgeschlossen, weil sie die Schulgebühren nicht zahlen können und von anderen Kindern schikaniert werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Somalia: Die Minderheitengruppe der ..., Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 5. Juli 2018, S. 4; Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Somalia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 47).

Wenngleich sich in den letzten Jahren offenbar ein Wandel andeutet und die Clanzugehörigkeit insbesondere in den Städten zunehmend an Bedeutung verliert, kommt es immer noch zu gesellschaftlichen Diskriminierungen insbesondere im Hinblick auf Mischehen. Als besonders problematisch wird es angesehen, wenn eine Mehrheits-Frau einen Minderheiten-Mann heiratet, da dann ihre Kinder der Minderheit angehören werden. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch, da die Kinder eines Mehrheiten-Mannes trotz einer Minderheiten- Mutter dem Mehrheitsclan angehören (vgl. Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Somalia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 43).

Die Konsequenzen einer solchen Mischehe variieren im Einzelfall. Dabei erscheint die Anwendung von Gewalt oder gar Tötung des Minderheitenmannes bei einer Beziehung zu einer Mehrheitsfrau nach den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht die übliche Reaktion auf Mischehen bzw. -beziehungen zu sein. Vielmehr kommt es in solchen Fällen in der Regel zu einer Verstoßung der Mehrheitsfrau aus ihrer Familie und ihrem Clan. Allerdings erscheint es aufgrund der Tabuisierung solcher Beziehungen in der somalischen Gesellschaft nicht als unglaubhaft, wenn es im Einzelfall zu einer gewalttätigen Reaktion kommt. So kommt es auch vor, dass sich die Aggression der Mehrheitsfamilie nicht gegen das eigene Familienmitglied, sondern gegen das Mitglied der Minderheit richtet, bis hin zur Anwendung von Gewalt oder gar Tötungen (vgl. Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Somalia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 44 f; siehe auch Verwaltungsgericht (VG) Bremen, Urteil vom 11. Januar 2019 – 2 K 3506/16 –, juris Rn. 40 m. w. Nachw.).

Aus dem Vorgenannten ergibt sich auch, dass die Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan auf einem gemeinsamen Hintergrund beruht, da diese durch die familiäre Abstammung bestimmt wird. Ein sozialer Aufstieg ist auf Grund der gesellschaftlichen Ächtung von Mischehen nicht möglich (so auch VG Sigmaringen, Urteil vom 25. Oktober 2017 – A 1 K 2737/17 –, juris Rn. 22). [...]