VG Osnabrück

Merkliste
Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 13.06.2019 - 1 A 25/17 - asyl.net: M27363
https://www.asyl.net/rsdb/M27363
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für einen jungen Afghanen, der an Hepatitis B erkrankt ist:

Die Behandlung einer Hepatitis B-Erkrankung dürfte in größeren Städten zwar grundsätzlich möglich sein, allerdings ist bei einem jungen Mann ohne Berufsausbildung und Unterstützung durch Familienangehörige nicht davon auszugehen, dass er in der Lage wäre, die Behandlungskosten neben seinen weiteren Lebenshaltungskosten zu tragen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Hepatitis B, Behandlungskosten, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, junger Mann, alleinstehend, Medikamente, Hepatitis, medizinische Versorgung, Krankheit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Zugunsten des Klägers besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan.

Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang ist in der Regel - wie auch hier - allein Art. 3 EMRK von Relevanz, der bestimmt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. [...]

Ein nach der Rechtsprechung des EGMR hierfür erforderlicher ganz besonderer Ausnahmefall liegt im Einzelfall des Klägers hinsichtlich Afghanistan vor.

Die allgemeine humanitäre Lage in Afghanistan stellt sich nach den Erkenntnismitteln folgendermaßen dar: Afghanistan sei trotz der internationalen Unterstützung und erheblichen Anstrengungen der afghanischen Regierung eines der ärmsten Länder der Welt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update - Die aktuelle Sicherheitslage vom 14. September 2017, S. 27) und das ärmste Land der Region (UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-seekers from Afghanistan, 30. August 2018, S. 32). [...] Außerhalb der Hauptstadt Kabul und den Provinzhauptstädten fehle es vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31. Mai 2018, S. 25). [...]

Zwar habe sich nach Angaben des Auswärtigen Amts die medizinische Versorgung seit 2005 erheblich verbessert, was auch zu einem deutlichen Anstieg der Lebenserwartung geführt habe. Dennoch bestehe landesweit eine unzureichende Verfügbarkeit von Medikamenten, Ausstattung und Fachpersonal, wobei die Situation in den Nord- und Zentralprovinzen um ein Vielfaches besser sei als in den Süd- und Ostprovinzen (Lagebericht vom 19. Oktober 2016, S. 23; Lagebericht vom 31. Mai 2018, S. 25 ff.). [...]

Es wird berichtet, dass 4,5 Mio. Menschen keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung hätten (UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-seekers from Afghanistan, 30. August 2018, S. 31 f., m.w.N.; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update - Die aktuelle Sicherheitslage vom 14. September 2017, S. 29, wonach geschätzte neun Millionen Menschen betroffen seien). [...]

Der Zugang zu Bildung sei ebenfalls erschwert. [...]

Die Arbeitslosenquote sei zwischen 2008 und 2014 von 25 % auf 39 % gestiegen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31. Mai 2018, S. 25); Mitte des Jahres 2016 sei sie auf bis zu 50 % geschätzt worden (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15 -, a.a.O., Rn. 77). [...] Zudem könnten 90 % der Tätigkeiten kein sicheres Einkommen garantieren (EASO, Country of Origin Information Report, Key socio-economic indicators, State protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City vom 1. August 2017, S. 22). [...]

Insbesondere stelle neben der Versorgung von Hunderttausenden Rückkehrern und Binnenvertriebenen vor allem die chronische Unterversorgung in Konfliktgebieten das Land vor große Herausforderungen. Die Gesamtzahl von Binnenflüchtlinge habe Ende 2016 ca. 1,8 Mio. betragen. [...]

Zudem wird berichtet, dass Personen, die aus dem europäischen Ausland zurückkehren, nicht nur mit Skepsis und Argwohn betrachtet würden, sondern auch aufgrund ihrer Abschiebung als Versager oder Kriminelle angesehen werden würden. [...]

Insgesamt sei daher die die Frage der Existenzsicherung bestimmende Situation, die ein Rückkehrer in seinem Herkunftsort oder in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif vorfinde, wesentlich davon abhängig, ob er über familiäre, verwandtschaftliche oder sonstige soziale Beziehungen verfüge, auf die er sich verlassen könne, oder ob er auf sich allein gestellt sei. [...]

Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen kommt in diesem Einzelfall eine Rückführung des Klägers nach Afghanistan im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht in Betracht.

Zwar ist der Kläger ledig, jung sowie grundsätzlich wohl in gewissem Maße arbeitsfähig und auch seine Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara spricht allein nicht für die Annahme eines Abschiebungsverbots (vgl. auch Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18 -, juris). Allerdings ist der Einzelrichter in diesem Fall angesichts der Hepatitis B-Erkrankung des Klägers und der damit einhergehenden notwendigen Finanzierung der Behandlung und von Medikamenten davon überzeugt, dass der Kläger nicht in der Lage wäre, sich das Existenzminimum in Afghanistan zu sichern. Das Gericht hat vor dem Hintergrund der vom Kläger beigebrachten aussagekräftigen fachärztlichen Atteste keinen Zweifel daran, dass er tatsächlich an einer chronischen Hepatitis B erkrankt ist, die mindestens noch zwei bis drei Jahre, ggf. auch lebenslang täglich mit dem Medikament Entecavir 0,5 mg und halbjährlichen Kontrollterminen behandelt werden muss, um ein Rezidiv der Krankheit zu verhindern. Diesem klägerischen Vorbringen ist auch die Beklagte nicht entgegengetreten.

Die Erkenntnismittellage zu der für den Kläger notwendigen Behandlung stellt sich uneinheitlich dar: [...]

Vor dem Hintergrund dieser Auskünfte dürfte eine Behandlung einer Hepatitis B-Erkrankung insbesondere in Kabul grundsätzlich möglich sein. Allerdings variieren die Angaben zu den Kosten für die Tabletten, die der Kläger täglich einnehmen muss, von einem Stückpreis von 25 Afghani bis 200 Afghani. Im Zweifel ist zugunsten des Klägers von dem hohen Preis auszugehen, so dass er im Monat ca. 6.000 Afghani für die Medikamente aufbringen müsste, ohne Berücksichtigung der Kosten, die daneben für eine Krankenhausbehandlung oder eine ärztliche Nachsorge anfielen. Die Kosten könnte der Kläger im Falle einer Rückkehr zur Überzeugung des Gerichts neben den sonstigen Kosten seines Unterhalts nicht tragen. [...]

Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG kommt es daneben nicht mehr an. [...]