VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 16.05.2019 - 31 K 378.17 A - asyl.net: M27377
https://www.asyl.net/rsdb/M27377
Leitsatz:

Ermessen bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots:

Bei Personen, deren Asylantrag (als offensichtlich unbegründet) abgelehnt wurde, die aber in kurzer Zeit überdurchschnittlich starke Bindungen in Deutschland aufgebaut haben (z.B. gute Deutschkenntnisse, anspruchsvolle Berufsausbildung, feste Beziehung), ist ein 30-monatiges Einreise- und Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einreise- und Aufenthaltsverbot, Asylantrag, Ablehnung, Integration, Ermessen, Befristung, offensichtlich unbegründet,
Normen: AufenthG § 11,
Auszüge:

[...]

20 Gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 AufenthG entscheidet die die zuständige Behörde – im vorliegenden Fall einer Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG ist dies gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG das Bundesamt – über die Länge der Befristung des Verbots nach Ermessen. Bei dieser Ermessensentscheidung sind u.a. die im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK schutzwürdigen familiären und sonstigen Beziehungen des Ausländers im Bundesgebiet sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (dazu BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – BVerwG 1 C 27/16 –, juris Rn. 22 f.; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Februar 2018 – OVG 3 B 11.16 –, juris Rn. 50). Für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung ist dabei auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen, so dass das Bundesamt auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit seiner Befristungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung seiner Ermessenserwägungen trifft (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – BVerwG 1 C 27/16 –, juris Rn. 23; Bay. VGH, Beschluss vom 11. Oktober 2018 – 21 B 18.30691 –, juris Rn. 22 f.). Die danach fortlaufend zu aktualisierende Ermessensentscheidung ist gerichtlich nur eingeschränkt daraufhin überprüfbar, ob die Behörde das ihr zustehende Ermessen in seiner Reichweite erkannt, ihre Erwägungen am Zweck der Ermessensermächtigung ausgerichtet und die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens nicht überschritten hat (§ 114 S. 1 VwGO).

21 Nach diesem Maßstab erweist sich die Ermessensentscheidung der Beklagten zum jetzigen Zeitpunkt als fehlerhaft, weil sie die Umstände des Einzelfalls nicht vollständig einbezieht und die zum Zeitpunkt der Entscheidung vorhandenen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet nicht ausreichend berücksichtigt.

22 Wie sich aus den im Verfahren eingereichten Unterlagen, den beigezogenen Ausländerakten und dem glaubhaften Vortrag des Klägers und seiner Beistände in der mündlichen Verhandlung ergibt, hat der Kläger während seines inzwischen knapp dreijährigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik einen einjährigen berufsqualifizierenden Lehrgang durchlaufen, befindet sich, nachdem er sechs Monate einer zweijährigen schulischen Berufsausbildung zum Metalltechniker absolviert hat, nunmehr im ersten Halbjahr einer dreieinhalbjährigen Berufsausbildung zum Elektroniker und verfügt, wie in der mündlichen Verhandlung deutlich wurde, bereits über gute Grundkenntnisse der deutschen Sprache.

23 Darüber hinaus führt er seit mehr als einem Jahr eine Beziehung mit einer polnischen EU-Bürgerin und wird demnächst gemeinsam sorgeberechtigter Vater eines Kindes, das kraft Geburt die polnische Staatsangehörigkeit erwerben wird (Art. 14 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes). Diese Bindung ist vom Bundesamt bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu berücksichtigten, denn die Vaterschaft hinsichtlich eines ungeborenen Kindes entfaltet unter dem Gesichtspunkt staatlicher Schutzpflichten für die Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und den nasciturus (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG) aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen, wenn entweder bereits vor der Geburt ein Beistandsbedarf von Mutter und ungeborenem Kind besteht oder nach der Geburt eine gemeinsame Übernahme der Elternverantwortung sicher zu erwarten ist, soweit den Betroffenen eine vorübergehende Trennung nicht zuzumuten ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. September 2012 – OVG 11 S 40.12 –, juris Rn. 23 m.w.N.). Daran, dass der Kläger und die Kindsmutter künftig gemeinsam Elternverantwortung übernehmen wollen, hat das Gericht aufgrund der Vaterschaftsanerkennung und Sorgerechtserklärung vom ... 2019 und seines Eindrucks in der mündlichen Verhandlung zu zweifeln keinen Anlass. Ohne Belang für die Berücksichtigungsfähigkeit dieser Bindung ist es ferner, ob das Kind und seine Mutter im Bundesgebiet freizügigkeitsberechtigt sind (§§ 2 und 3 FreizügG/EU). Denn das verhängte Verbot, das die Einreise in sämtliche Schengenstaaten hindert (vgl. Art. 6 Abs. 1 lit d Schengener Grenzkodex, Art. 5 Abs. 1 lit. d, 25, 96 des Schengener Durchführungsübereinkommens), belastet den Kläger unabhängig davon, ob Mutter und Kind künftig in Deutschland oder Polen leben werden.

24 Verfügt der Kläger damit über Bindungen im Bundesgebiet, die über die standardmäßigen Bindungen erheblich hinausgehen, so stellt sich die in Regelfällen rechtmäßige Regelbefristungsentscheidung auf 30 Monate (dazu OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 6 A 10042/18 –, juris Rn. 5 m.w.N.; VG Berlin, Urteil vom 4. April 2019 – VG 31 K 248.17 A –, S. 8 f. m.w.N., Veröffentlichung beabsichtigt) in seinem Fall als unverhältnismäßig dar. Da die Beklagte sich weder zu den im Vorfeld des Termins zum Beleg dieser Bindungen übermittelten Unterlagen geäußert noch an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, ist die vor diesem Hintergrund jedenfalls gebotene Fristverkürzung und Ergänzung ihrer diesbezüglichen Ermessenserwägungen unterblieben, so dass sich die in Ziff. 5 des Bescheides getroffene befristete Verbotsanordnung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als ermessensfehlerhaft erweist. [...]