Flüchtlingsanerkennung für einen homosexuellen Mann wegen drohender Verfolgung in Marokko:
"1. Homosexuellen droht in Marokko Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.
2. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist unions- und völkerrechtskonform eng auszulegen. Die in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Tatmodalitäten müssen Tatbestandsvoraussetzungen der Strafnorm sein, wegen der der Ausländer zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde.
3. Ein einfacher Diebstahl stellt keine Katalogtat i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG dar, selbst wenn er mit List begangen wurde."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
33 2. Aufgrund seiner Homosexualität hat der Kläger in Marokko Verfolgung zu fürchten. Dabei kann dahinstehen, ob sich der Kläger auch 18 Jahre nach seiner Ausreise noch auf die Beweiserleichterung er Vorverfolgung durch seine Familie berufen kann. Denn es droht ihm aufgrund seiner Homosexualität Verfolgung von staatlicher Seite.
34 Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind, weil sie hierdurch eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, stellt als solcher zwar noch keine Verfolgungshandlung dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind, und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt eine Verfolgungshandlung dar (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – C-199/12 u.a. –, juris Rn. 44 bis 49 und 56 f.). Nach Art. 489 des Marokkanischen Strafgesetzbuches vom 26. November 1962 wird mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren und einer Geldstrafe von 120 bis 1.000 Dirham bestraft, wer unzüchtige oder unnatürliche Akte mit einer Person des gleichen Geschlechts vornimmt, wenn nicht erschwerende Umstände vorliegen (vgl. International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA), State-Sponsored Homophobia, 2019, S. 352; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage im Königreich Marokko, Stand: November 2018, S. 15). Die Abschaffung von Art. 489 des Strafgesetzbuches ist nicht absehbar (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 15; ILGA, a.a.O., S. 354). Insgesamt herrscht – trotz leichter Verbesserungen in der jüngeren Vergangenheit – gegenüber Homosexuellen ein feindliches Klima (vgl. nur das Zitat des Menschenrechtsministers bei ILGA, a.a.O., S. 353: "We are in Morocco, if we keep talking about [homosexuals] we will give them value, [they are] trash" = "wir sind in Marokko, wenn wir über Homosexuelle sprechen, geben wir ihnen Wert, sie sind Abfall"; s.a. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 15: "gesellschaftlich nicht toleriert"; US Department of State, Morocco 2018 Human Rights Report, 13. März 2019, S. 33: "stigma"; GIZ, LIPortal, Marokko, Stand: April 2019, abrufbar unter www.liportal.de/marokko/gesellschaft/: [LGBTI Personen] "leiden … unter sozialer Ächtung aufgrund rückständiger, homophober Mentalitäten"). Legal agierende zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich zu LGBTI-Themen einsetzen, gibt es nicht (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 16).
35 Zwar sind dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes nur wenige Fälle der Verurteilung von Homosexuellen zu entnehmen (vgl. die Auflistung bei Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 16). Allerdings werden die Verurteilungen in Marokko nicht statistisch erfasst, und kam es nach der Untersuchung der Nichtregierungsorganisation ASWAT in den ersten drei Monaten von 2016 alleine in Casablanca zu 19 Verurteilungen (vgl. Outright, Activism and Resilience: LGBTQ Progress in the Middle East and North Africa, S. 35 m.w.Nachw.; s.a. ILGA; a.a.O., S. 352: "zahlreiche Berichte von Festnahmen und polizeilichen Einschüchterungen"). In Übereinstimmung mit diesen Erkenntnissen geht auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung von einer Verfolgung Homosexueller in Marokko aus (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 2. Mai 2018 – 7 B 1821/18 –, juris Rn. 31 ff. m.w.Nachw.; VG Dresden, Urteil vom 1. März 2018 – 7 K 1327/17.A, Entsch.-Abdr. S. 5 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 10. August 2017 – 2 A 7784/16 –, juris Rn. 25 ff. m.w.Nachw.).
36 Dem steht nicht entgegen, dass nach Erkenntnis des Auswärtigen Amtes Homosexualität, die im Privaten gelebt wird, in der Regel nur auf Anzeige von Familien und Nachbarn verfolgt wird (Auswärtiges Amt, ebd.). Denn zum einen ist Homosexuellen nicht zuzumuten, ihre sexuelle Orientierung nur im Verborgenen zu leben und damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 46). Zum anderen droht Homosexuellen aufgrund des feindlichen gesellschaftlichen Klimas jederzeit die Anzeige aus ihrem privaten Umfeld heraus. Somit besteht auch kein interner Schutz in anderen Landesteilen (vgl. § 3e Abs. 1 AsylG). Vor dem Hintergrund der drohenden staatlichen Verfolgung kann offen bleiben, ob der Kläger zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner sexuellen Orientierung schwerwiegenden homophoben Attacken von Mitgliedern der Zivilgesellschaft ausgesetzt wäre.
37 3. Der Kläger ist schließlich auch nicht von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ausgeschlossen.
38 Nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG, neu gefasst mit Wirkung vom 10. November 2016 durch Gesetz vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460), kann von der Anwendung des Abs. 1 – Abschiebungsverbot für Flüchtlinge – abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist. Tatbestandliche Voraussetzung der Norm ist folglich, dass der Ausländer wegen einer im Katalog genannte Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde und (deswegen) eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.
39 Die genannte Norm ist dabei unions- und völkerrechtskonform restriktiv auszulegen (vgl. im Ergebnis Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, Rn. 31; s.a. Göbel-Zimmermann, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 60 Rn. 86: "völkerrechtlich zumindest sehr bedenklich"; Thym, Die Auswirkungen des Asylpakets II, NVwZ 2016, 409, 415). Sie setzt Art. 14 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 Buchst. b) der Qualifikationsrichtlinie um, welche es erlaubt, einem Flüchtling die Rechtstellung nicht zuzuerkennen, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, wobei es nicht ausreicht, wenn aufgrund mehrerer Verurteilungen wegen weniger schwerwiegender Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht (vgl. European Asylum Support Office – EASO, Richterliche Analyse. Beendigung des internationalen Schutzes: Artikel 11, 14, 16 und 19 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU), 2018, S. 54 mit Verweis auf Asylgerichtshof Österreich). Als typischerweise besonders schwere Straftaten sieht das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen Vergewaltigung, Drogenhandel, schweren Raub, versuchten Mord, Entführung und schwere Körperverletzung an, wobei auch bei diesen im Einzelfall zu überprüfen sei, ob diese objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend seien (vgl. EASO, ebd., S. 55). Die Genfer Flüchtlingskonvention knüpft einen Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft daran, dass der Flüchtling bestimmte schwere Verbrechen (gegen den Frieden, Kriegsverbrechen o.ä. oder schwere nichtpolitische Verbrechend außerhalb des Aufnahmelandes) begangen hat (vgl. Art. 1 F GFK) und erlaubt die Zurückweisung nur, wenn der Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde (vgl. Art. 33 Abs. 2 GFK).
40 Soweit gem. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG bereits die Verurteilung zu einer einjährigen Freiheitsstrafe wegen eines (unter bestimmten Tatmodalitäten begangenen) Eigentumsdelikts den Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft zur Folge haben kann, kann offen bleiben, ob dies mit Unionsrecht vereinbar ist (mit Zweifeln insoweit Deutscher Bundestag, Unterabteilung Europa, Fachbereich Europa, Ausarbeitung: Vorgaben des EU-Rechts zu Voraussetzungen und Grenzen von Aufenthaltsbeendigungen international Schutzberechtigter infolge von Straffälligkeit, PE 6 – 3000 – 4/16 vom 9. Februar 2016, S. 32 f.). Denn vorliegend ist bereits die Tatbestandsvoraussetzung der rechtskräftigen Verurteilung zu einer mindestens einjährigen Freiheitsstrafe wegen einer gegen ein in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genanntes Rechtsgut (hier: Eigentum) gerichteten, mittels einer dort genannten Tatmodalität (hier: List) begangenen Tat nicht gegeben. Denn Voraussetzung für die Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist, dass die dort genannte Tatmodalität Teil des Tatbestands der strafrechtlichen Norm ist (vgl. ausführlich Zeitler, HTK-AuslR / § 60 AufenthG / zu Abs. 8 Satz 3, Stand: 18.11.2016, Rn. 31 ff.; s.a. ders., HTK-AuslR / § 60 AufenthG / zu Abs. 8 Satz 3 05/2019 Nr. 6 und ders., ebd. § 54 AufenthG / Abs. 1 Nr. 1a 05/2019 Nr. 4; so wohl auch Koch, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online- Kommentar zum Ausländerrecht, AufenthG § 60 Rn. 56). Dies legt schon der Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nahe, der in der Formulierung strafgesetzliche Tatbestandsmerkmale nennt (vgl. die Verweise bei Koch, in: Kluth/Heusch, a.a.O.). Nur so kann der gebotenen restriktiven Auslegung des Ausschlusses von der Flüchtlingseigenschaft Rechnung getragen werden, während andererseits nur so die aufenthaltsrechtlichen Folgen der zu verhängenden Strafe bereits im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden können (Zeitler, HTK-AuslR / § 60 AufenthG / zu Abs. 8 Satz 3, Stand: 18.11.2016, Rn. 31 ff.). [...]